“Lieber Freund, Du hast recht, wenn
Du sagst, daß der Neujahrstag dumm ist, mein Freund, man hat den Tapfersten der Tapferen La Fayette
mit weißen Haaren die Freiheit der 2 Welten fortgeschickt. Freund ich werde Dir meine
politischen und konstitutionellen liberalen Reden
schicken, Du hast recht, wenn Du sagst, daß es mir Freude machen wird, wenn Du nach Rouen kommst das wird mir sehr große Freude machen…”
[Lasse Clausen]
Editorial Correction
foû[Lasse Clausen]
Addition
by Klaus Mollenhauer
Addition
by Klaus Mollenhauer
Addition
by Klaus Mollenhauer
Addition
by Klaus Mollenhauer
Abbreviation
Proband
Editorial Note
Editorial Note
Vgl.
Pestalozzi, 1797 [Lasse Clausen]
Editorial Note
Vgl. Piaget, 1969> [Lasse Clausen]
Editorial Note
Vgl. Freud, 1967, S. 12
f.. [Lasse Clausen]
Editorial Note
Merian (1980, S. 334) zitiert nach
Oelkers und Lehmann 1983, S. 91. [Lasse Clausen]
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: ZB8LKTHM
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: HZ77YWQM
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: E6J6VP3G
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: 3LM547JL
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: F6IXMDA3
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: 8WFEA3Z8
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: 5LBXBECB
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: CGCLL4JS
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: SLQSMW4S
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: 4YITMYF8
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: 58DGQBAE
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: EZ7XH5SD
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference
Could not load data.
Bibliographical Reference (added)
Could not load data.
Bibliographical Reference (added)
Could not load data.
Bibliographical Reference (added)
Could not load data.
Bibliographical Reference (added)
Could not load data.
The result of the citation check can be viewed in the following Zotero entry: N6L6HMAJ
[A08:1] Im Rahmen einer Vortragsreihe mit dem Titel
“Sinn
im Wissenschaftshorizont”
könnte es für den Pädagogen, um einen
Beitrag gebeten, naheliegen,
“vom Sinn der Erziehung und
Bildung”
zu reden, oder zu erläutern, inwiefern und ob überhaupt
Erziehungswissenschaft als eine sinnverstehende Tätigkeit bestimmt werden
könnte, oder darzustellen, wie Kinder sich den Sinn der Lebenswelt
erschließen, in der sie aufwachsen bzw. wie die Erwachsenen solchen Sinn den
Kindern repräsentieren – vom möglichen und wirklichen Unsinn in all diesen
Hinsichten gar nicht zu reden! Allein: ich möchte hier einen anderen
Problemzugang wählen, da ja doch über jene drei Varianten des Themas – die
anthropologische, die wissenschaftstheoretische und die empirische – so viel
geschrieben wurde, daß mein Beitrag vielleicht nicht unbedingt eine
Bereicherung der Diskussion wäre. Man kann den Bezug, den das Rahmenthema
auf pädagogische Problemstellungen hat, auch auf andere Weise suchen:
[A08:2] Daß die Bildung des Kindes in dem Maße vorankommt, in dem es sieh
die Sinnhorizonte der vorgegebenen Lebenswelt, ihre kulturellen Bestände und
Traditionen erschließt, wird kaum mit Gründen bezweifelt werden können (man
denke nur an die Sprache). Daß andererseits, wer erziehen will, sich auf die
Lebensäußerungen des Kindes sinnverstehend beziehen muß, scheint mindestens
in unserem Kulturkreis plausibel. Dieses sinnverstehende Sich-Beziehen auf
das Kind richtet sich naturgemäß auf die verschiedensten Lebensäußerungen;
viele davon sind Imitate der herrschenden Kultur, mit Varianten und
Nuancierungen. Einige aber sind anders; zu diesen gehören Akte der
Selbsttätigkeit. Sie sind nicht notwendig anders in den Inhalten, sie sind
es vielmehr der Form nach. Ich möchte das Sinnproblem im Hin|a 70|blick auf diese Akte von Kindern und Jugendlichen vorläufig so
umschreiben: Ehe noch der sich bildende junge Mensch im Kontext gegebener
und inhaltlich bestimmter Sinnhorizonte lokalisiert wird bzw. sich
lokalisiert,
“produziert”
er Lebenssinn für sich selbst
in Akten der Selbsttätigkeit. Das geschieht beispielsweise im Symbolspiel
des Kleinkindes; in der Bildung eines Begriffs von
“anderen
Personen”
, die allgemeiner sind als Mutter und Vater; in kognitiver
Koordinierung von Menge und Gewicht, subjektiv-erlebter und
objektiv-meßbarer Zeit und in vielen anderen ähnlichen Operationen. Diese
Operationen sind nicht
“lehrbar”
. Lehrbar und
demonstrierbar sind nur die Problemstellungen (und für diese findet das Kind
in den ihm präsentierten Lebensformen mannigfache Anlässe). Das jeweilige
Problem aber muß das Kind selber lösen, durch seine eigene geistige
Tätigkeit. Diese Problemlösung bedeutet für das Kind
“Sinn”
insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders
ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem. Im folgenden möchte ich,
gleichsam neben den in der erziehungswissenschaftlichen Literatur
üblicherweise geführten Diskussionen herlaufend, an drei Beispielen fragen,
was Selbsttätigkeit im Sinne dieser elementaren Sinnproduktion sein
könnte.
Reden
[081:300] Im Jahre 1805 schrieb Heinrich von Kleist ein kleines Prosastück mit dem
Titel
“Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim
Reden”
. Dieses Stück enthält, in sehr leichter, fast spielerischer
Attitüde vorgetragen, einen für die Bildungstheorie wesentlichen Gedanken,
wenngleich wohl auf Anhieb schwer erkennbar ist, was die folgende kleine
Szene mit Pädagogik zu tun haben könnte:
[081:301]
“Mir fällt jener
‘Donnerkeil’
des Mirabeau
ein, mit welchem er (Mirabeau)
den Zeremonienmeister abfertigte, der nach
Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs
am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen
auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den
Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs
vernommen hätten?
‘Ja’
, antwortete
Mirabeau,
‘wir haben des
Königs Befehl vernommen’
– ich bin gewiß, daß er,
bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette
dachte, mit welchen er schloß:
‘ja, mein Herr’
, wiederholte er,
‘wir haben ihn vernommen’
– man
sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will.
‘Doch was berechtigt Sie’
– fuhr er
fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell |a 71|ungeheurer Vorstellungen auf –
‘uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind
die Repräsentanten der Nation.’
– Das war es, was
er brauchte!
‘Die Nation gibt Befehle
und empfängt keine.’
– um sich gleich auf den
Gipfel der Vermessenheit zu schwingen,
‘und damit ich mich Ihnen ganz deutlich
erkläre’
– und erst jetzo findet er, was den
ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet
dasteht, ausdrückt:
‘so sagen Sie Ihrem
Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf
die Gewalt der Bajonette verlassen werden.’
–
worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl
niedersetzte. – Wenn man sich den Zeremonienmeister
denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht
anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen.”
(Heinrich von Kleist, Sämtliche
Werke und Briefe, Zweiter Band, hrsg. von H. Sembdner,
S.
323)
[081:302] Mich interessiert an dieser
“Anekdote”
nicht
die republikanische Pointe, sondern die dargestellte geistige Bewegung, die
Art der Tätigkeit, die hier durch das Reden in Gang gesetzt wird. Aber das
ist schon nicht ganz richtig beschrieben. Kleist behauptet in der Szene nicht, daß das
Reden die Ursache der Bewegung der Gedanken sei;
er vermeidet überhaupt jede empirische Eindeutigkeit im Sinne von Ursachen
und ihren Folgen; nicht das
“Verfertigen der Gedanken durch das Reden”
(oder das Umgekehrte) zeigt
er, sondern
“beim Reden”
. Denken
und Reden sind parallele Ereignisse, allerdings so, daß zwischen beiden
irgendeine Art von Wechselbeziehung gedacht wird. Das läßt sich – jedenfalls
von Heinrich von Kleist –
auch in einem Satz darstellen. In dem Essay heißt es etwas früher:
[081:303]
“Weil ich doch
irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich
suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so
prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das
Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der
Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden,
jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit
aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem
Erstaunen, mit der Periode fertig ist.”
(Kleist, a. a. O., S.
322)
[081:304] Dieser Satz repräsentiert, in seinem syntaktischen Gefüge, genau
den Gedanken, den er zum Inhalt hat. Zugleich repräsentiert er aber auch die
Bewegung, in der der Gedanke gebildet wird. Die Bewegung des Gedankens und
die Bewegung des Redens (oder auch Schreibens) können wir auch
“innere”
und
“äußere”
Tätigkeit
nennen. Und sofern das Subjekt des Satzes und das Subjekt der Tätigkeit
identisch sind, reden wir von
“Selbsttätigkeit”
.
[081:305a] Das ist
nun allerdings zunächst nur ein Etikett; was es bedeuten könnte,
zumal welches Problem sich darin verbirgt, soll gleich erläu|a 72|tert werden. Zunächst aber noch ein paar
Sätze zu dem anschaulichen Bild, in dem Kleist seine Problemskizze
vorträgt.
[081:305b] Ganz
wesentlich für Kleists Vorstellung von dem Sachverhalt ist nämlich,
daß diese
“Verfertigung der Gedanken beim
Reden”
nicht etwa – das wäre ja denkbar – als stille
Meditation eines einsamen Denkers gedacht wird, sondern vor
Publikum, in einem sozialen Verhältnis also. Dies ist ihm sogar
das Wichtigste an dem ganzen Problem. Der Essay beginnt nämlich
mit dem folgenden Satz:
[081:306]
“Wenn du etwas wissen
willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so
rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem
nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu
sprechen. Es braucht nicht eben ein scharf denkender
Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn
darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm
selber allererst erzählen.”
(Kleist, a. a. O., S.
321)
[081:307] Man kann zwar nicht behaupten, Kleist sei hier der Meinung, daß jene
Tätigkeit der Gedanken-Verfertigung immer und nur dann möglich ist, wenn die
Bedingung eines sozialen Verhältnisses gegeben ist. Der Essay ist keine
philosophisch-logische Argumentation. Er läßt deshalb diese Frage offen.
Aber er gibt doch zu bedenken, wie wichtig es für den Begriff der geistigen
Tätigkeit sein könnte, sie sich nicht nur so zu denken, als richte ein
denkendes (oder sonst irgend produktives) Ich seine Aufmerksamkeit auf
nichts als den Gegenstand, sondern auch so, daß die Aufmerksamkeit eines
anderen, eines Alter ego, für die eigene Tätigkeit, ihre Bewegung und ihr Produkt,
bedeutungsvoll, wenn nicht gar notwendig ist. Erst in unserem Jahrhundert
wurde, beispielsweise von G. H.
Mead, dieser Gedanke voll entfaltet. Aber schon zur Zeit Kleists fand er in der
Philosophie Fichtes und
seiner Schüler eine Stütze. Deren Frage war, wie aus dem bloß möglichen Vernunftwesen Mensch ein wirkliches werde (vgl. für das folgende D.
Benner 1978, S. 89
ff..
[081:308a] Der
Argumentationsgang der Fichteaner sieht so aus: Ausgangspunkt
ihrer erziehungsphilosophischen Überlegungen ist eine Definition
des Menschen als Vernunftwesen:
“Das Vernunftwesen ist ein mit
Bewußtsein tätiges”
(Sauer)
. Das bedeutet zweierlei: Einerseits ist jeder einzelne
Mensch das, was er als Vernunftwesen ist, nur durch Tätigkeit,
der Mensch
“als Werk seiner selbst”
, wie
Pestalozzi sagte; andererseits ist
er das nicht durch Tätigkeit überhaupt, durch irgendeine |a 73|Tätigkeit, sondern durch
“bewußte”
Tätigkeit; und
“bewußt”
ist
eine Tätigkeit dann zu nennen, wenn – gleichsam neben der
Tätigkeit – diese Tätigkeit auch noch angeschaut wird. Die
Fichteaner nennen dieses Anschauen der eigenen Tätigkeit
“Reflexion”
. Es gibt also zwei Arten von
Tätigkeit: einen gleichsam naiven Umgang mit den Gegenständen
der Welt und eine Auseinandersetzung mit den Weisen dieses
Umgangs. Erst wenn die zweite Art der Tätigkeit hinzutritt und
sich auf die erste bezieht, kann man sagen, daß das Vernunftwesen sich
die Welt aneignet, Sinneswahrnehmungen
zu eigenen Erfahrungen macht, sich bildet.
[081:308b] Das
hier Gemeinte läßt sich beispielsweise beim Kleinkind
beobachten, wenn es, nach einer Phase scheinbar diffusen
Hantierens mit Bauklötzen, zu einem regelgeleiteten
konstruktiven Spiel übergeht (in der Bildungstheorie Piagets
spielt in diesem Vorgang tätiger Weltaneignung die Bildung von
Begriffen die entscheidende Rolle). Will man den Bildungsprozeß
eines Menschen verstehen, muß man sich also offenbar klarmachen,
von welcher Art dieses eigentümliche Verhältnis ist, das wir je
zu uns selber haben.
“Die Bildung des
Vernunftwesens findet auf keine andere Weise als durch
eine Wechselwirkung desselben mit sich selbst statt. Was
auch immer von außen zu ihrer Beförderung geschehen mag,
seine Bildung verdankt es schlechthin sich selbst, denn
so wie es aus sich selbst nie heraustritt, so gelangt
auch nie etwas in dasselbe hinein, es sei denn, daß es
sich dasselbe aneigne”
(Sauer )
.
[081:309] Das scheint nun eine durchaus unbefriedigende Formulierung des
Bildungsproblems zu sein. Es sollte doch geklärt werden, wie das
Vernunftwesen, das der Mensch als Möglichkeit ist, Wirklichkeit wird. Was hat es also mit dem
“Werden”
auf sich, von dem im letzten Zitat die Rede war? Denn:
bliebe es bei der bisherigen Auskunft über das Problem, wäre
“Erziehung”
überflüssig, und der Bildungsprozeß wäre
nichts als eine dauerhafte Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst.
Selbsttätigkeit wäre eine Art Münchhausen-Effekt. Kleist gibt in seinem Essay und seiner Anekdote vorsichtig, aber anschaulich zu
bedenken, daß da noch etwas fehlen könnte. Und auch die Schüler |a 74|Fichtes stoßen auf diese Schwierigkeit:
[081:310]
“Es ist … nicht zu
begreifen, wie sie (die Kräfte des möglichen
Vernunftwesens) von sich selbst ohne äußeren Anstoß in
Wechselwirkung treten könnten, denn von welcher aus der
Anfang gemacht werden
sollte, diese müßte, wider unsere Voraussetzung, in
ihrer Ruhe schon als tätig einwirkend auf die übrigen
gedacht werden. Sollen sie also denn doch aus ihrer Ruhe
in wechselseitige Tätigkeit übergehen, so kann der Grund
davon nur einem äußern Antriebe beigelegt werden.”
(Sauer, zit. nach Benner 1978,
S.
93)
[081:311a] Wie
also kann man sich vorstellen, daß die im Kinde gleichsam
schlummernden Kräfte des Vernunftwesens in Tätigkeit kommen? Wie
kann man sich vorstellen, daß aus der bloßen Bildsamkeit, dem
Vernunftwesen als Möglichkeit also, ein wirklicher
Bildungsprozeß wird? Und läßt sich eine Antwort finden, die notwendig ist und nicht nur zwar
plausible, aber vielleicht zufällige empirische Beobachtungen
beibringt?
[081:311b] Eine Antwort, die nur auf zufällige
empirischen Bedingungen, Anstöße verweist, könnte nicht
befriedigen. Würden wir uns nämlich mit derartigen Antworten zufrieden
geben, dann würden wir ja die Prinzipien unseres pädagogischen
Handelns situativ den jeweiligen Umständen anpassen: d. h. von
“Prinzipien”
des Handelns könnte
keine Rede mehr sein, eher von vermuteten oder situativ
erfundenen Zweckmäßigkeiten, die sich dann nicht mehr am Menschen als Vernunftwesen orientierten,
sondern an dem, was man gerade kurzfristig für wünschenswert
hält oder billigend in Kauf nimmt. Eine solche Einstellung
nennen wir nach herrschendem Sprachgebrauch
“opportunistisch”
.
[081:312] Der springende Punkt ist also die Frage, wie die
“Vernunft”
des Kindes in Tätigkeit versetzt werden kann. Da nicht
erkennbar ist, wie das mögliche Vernunftwesen aus sich selbst heraus zu
dieser Tätigkeit kommen könnte, bedarf es eines Antriebs von außen. Also
beispielsweise die Sinnesempfindungen? Diese Antwort führt, nach allem
Vorhergehenden, in eine Sackgasse: wie beispielsweise könnte man sich verständlich machen, daß das Hantieren
des Kindes mit Bauklötzen zu einer Idee regelgeleiteter Operationen führt?
Die Sinnesempfindung, auch die durch die Motorik des Kindes bewirkte
Selbststimulation (die wir ja auch bei Tieren beobachten können), wie
erreicht sie die
“schlummernden”
Vernunftkräfte? Denn
alle Sinneseindrücke können doch immer nur die erste Art der Tätigkeit
erreichen und erregen.
|a 75|
[081:313] Wie also muß dieser äußere Antrieb gedacht werden, damit er nicht
nur das gleichsam naive Tätigsein erreicht, sondern das
“mögliche”
Vernunftwesen derart in Tätigkeit versetzt, daß es
anfängt, sich reflexiv auf die Tätigkeiten der ersten Art zu beziehen? Der
Antrieb oder Anstoß muß also so beschaffen sein, daß er nicht nur das äußere
Tätigsein betrifft, sondern die innere Tätigkeit, und daß eine Beziehung
zwischen beiden hergestellt werden kann. Die Antwort der Fichteaner war, im
Grundsatz, nicht sehr verschieden von der Antwort, die die
Erziehungsforschung auch heute gibt – heute freilich detaillierter und durch
einige wichtige Zusatzbedingungen angereichert – , nämlich:
[081:314]
“Das unbestimmte
Vernunftwesen kann mit sich selbst in keinen bestimmten
Wechsel treten, wenn es nicht durch ein anderes,
bestimmtes Vernunftwesen dazu ausdrücklich bestimmt
wird”
(Sauer)
. Oder etwas ausführlicher:
“Das Resultat des
Gesagten ist also der Satz, daß die ganze Erziehung lediglich darin
besteht, daß das Wesen, welches erzogen werden soll,
durch äußere Gegenstände zum freien Handeln aufgefordert
und dadurch seine Selbstständigkeit angeregt werde … ”
(Johannsen, zit. nach Benner
1978, S.
94)
[081:315] Genau das hatte Kleist angedeutet. Aber er fügte diesem Gedanken noch eine nicht
unwichtige Interpretation hinzu: es bedürfe nämlich für jene Aufforderung
zur Selbsttätigkeit keiner besonders geschäftigen Selbstdarstellung, keiner
zielgerichteten, auf eine bestimmte Wirkung bedachten Tätigkeit des Anderen,
sondern nur einer gewissen gespannten Aufmerksamkeit für die Differenz
zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen. Die erste Tugend des Pädagogen
wäre demnach Aufmerksamkeit, Zuhören-Können, geduldig beobachten.
Rechnen
[081:316] Ein Mathematiklehrer (B. M.) unterrichtet in einer Art
Privatstunde einen achtjährigen Jungen (Didier). Dabei spielt sich die folgende Szene
ab:
[081:317]
“B. M.: Wieviel Finger
hast du? Didier: Warte mal. Hmm, einen zwei, drei, vier. Vier. – Und ich? –
(er zählt) Fünf. – Haben alle Leute gleich viel
Finger? – Ja. – Und Rémy, wieviel Finger hat der ? – Fünf. |a 76| – Und du, Didier? – Das hab’ ich dir doch schon
gesagt. – Wieviel denn? – O je, o je, vier.
– Aber ich, ich habe fünf? – Ja, also ich habe
doch immer weniger.”
[081:318] Später kommentiert der Lehrer:
[081:319]
“In der Zwischenzeit
hat Didier gewisse Fortschritte gemacht. Er hat
sogar ganz gewisse Fortschritte gemacht. Er ist nicht
mehr derselbe wie im September. Er ist viel weniger
zerstreut und keineswegs (aber wirklich keineswegs) mehr
das artige Kind. Er ist schelmisch geworden, lebhaft und
weiß sich zu wehren. Wenn er auch immer noch weniger hat, will er jetzt doch mehr.”
(Mannoni 1978, S. 90
f.)
[081:320] Was geschieht hier? Der Ort der Handlung ist Bonneuil, eine kinder- und
jugendpsychiatrische Einrichtung in der Nähe von Paris, in der seelisch
schwer geschädigten Kindern und Jugendlichen pädagogisch und therapeutisch
geholfen wird. Die Einrichtung ist keine stationäre Klinik, sondern
“offen”
: die Kinder wohnen teils in der Einrichtung, teils in Pflegefamilien, nach
eigenem Belieben; es werden Einzeltherapien, Gruppengespräche,
Unterrichtsstunden usw. angeboten; niemand wird
zur Teilnahme gezwungen; wer arbeiten will, dem wird eine Möglichkeit dazu
vermittelt, meist bei Freunden der Einrichtung. Hier also lebt auch der
achtjährige Didier. Er
hat einen starken Entwicklungsrückstand und wirkt schwachsinnig; das wird
von dem Lehrer, der die Szene notierte, allerdings anders ausgedrückt:
“Er spielt perfekt den
‘Debilen’
”
(a. a. O., S. 86)
. Er
“ist”
also nicht schwachsinnig; vielmehr folgt
er in seinem Verhalten einer (ihm nicht bewußten) Regel, die ihn als
schwachsinnig erscheinen läßt.
“Schwachsinn”
ist für ihn
selbst die Legitimation seines Verhaltens und für die anderen ein Etikett,
das seine Merkwürdigkeiten (scheinbar) verstehbar macht. (Ein anderer Junge dieser Einrichtung hatte einmal dieses Problem auf
eine einfache Formel gebracht, einen Test zur Unterscheidung eines
“echten”
von einem
“gespielten”
Schwachsinnigen:
“Man stellt eine Frage: Wieviel ist 10 mal 10? Der
natürliche Idiot weiß es nicht. Der den Idioten spielt, gibt
absichtlich eine falsche Antwort, weil er fürchtet, eine tödliche
Antwort zu geben”
(ebd.)
. Das verrät eine gute Kenntnis der
“Innenansicht”
von Pseudo-Debilität, allerdings nicht ganz zutreffend, denn was soll hier
“absichtlich”
heißen?)
|a 77|
[081:321] Didier
beispielsweise, auf die Aufforderung hin, einen kleinen, einen mittleren und
einen großen Stock zu zeichnen, gibt dem Lehrer das Blatt mit folgenden drei
Strichen zurück:
[081:322] Der Lehrer fragt skeptisch nach, und der Junge erklärt, der
mittlere sei der größte. Beherrscht er die Reihenbildung nicht? Der Lehrer
kommentiert:
“Didier ist der älteste unter den Geschwistern. Er hat
zwei Brüder, und der mittlere Bruder ist genauso groß wie Didier … Didier
reproduziert also haargenau eine Familiensituation, die ihn
beängstigt und von der er sich nicht abstrahieren kann”
(a. a. O., S. 87)
.
[081:323] Diese Informationen erklären zwar noch nicht zureichend den von
Didier gespielten
Schwachsinn, sie erleichtern aber die Interpretation der zitierten Szene.
Was also geschieht dort? Der Lehrer
diagnostiziert das Lernproblem Didiers offenbar (nicht explizit; aber man erkennt
es aus seinen Beispielen) als eine Paradoxie, die durch zwei unvereinbare
Anforderungen entsteht: was kognitiv richtig ist, ist affektiv falsch; was
affektiv richtig ist, ist kognitiv falsch.
[081:324] Man könnte, angesichts einer solchen Blockierung der
Vernunfttätigkeit des Kindes, die beiden Komponenten trennen: zunächst das
Zählen üben, und zwar an unverfänglichen Beispielen, und, etwa parallel
dazu, in therapeutischen Gesprächen und Übungen, die affektive Situation
aufklären (für das eine wäre der Pädagoge, für das andere der
Psychotherapeut zuständig). Der Lehrer in jener Szene trifft eine andere
Wahl; er trennt die Komponenten nicht, sondern nötigt das Kind geradezu in
das Dilemma hinein. Ihm wird keine Möglichkeit gelassen,
“den Idioten zu spielen”
, denn daß es bis fünf zählen kann, hat es ja
bereits zugegeben; ihm bleibt deshalb nur noch die Wahl, die Interaktion
abzubrechen oder sich mit seiner affektiven Blockade auseinanderzusetzen.
Das Kind
“akzeptieren”
heißt hier also nicht, es in seinem gegenwärtigen Status gelten zu
lassen, sondern es darüber hinauszudrängen dadurch, daß es zur Lösung eines
schwierigen Problems genötigt wird: Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Das
ge|a 78|schieht freilich nicht in einer einzigen
Situation, sondern in einer Serie von Situationen, die immer diese gleiche
Struktur haben.
[081:325] Das zugrunde liegende Problem bezeichnet der Lehrer so: diese Kinder abstrahieren sich nicht vom Konkreten; eben dies blockiert
ihre Tätigkeit. Die pädagogische Aufgabe besteht demnach darin, diese
Abstraktion zu ermöglichen; das soll dadurch geschehen, daß die
Selbsttätigkeit des Kindes
“als Vernunftwesen”
(Fichte) herausgefordert wird; dies
wiederum bedeutet, daß es, in den zitierten Beispielen, sich von den beiden
Komponenten (Kognition und Affektion) distanzieren kann, eine
“operative”
Einstellung gewinnt. Das ist nun aber eine
Beschreibung des vorliegenden pädagogischen Problems, das der Auffassung Piagets
nicht nur ähnelt, sondern ihr gleich ist.
[081:326] Bei Piaget taucht
das Wort
“Selbsttätigkeit”
als theoretischer Terminus
nicht auf. Er spricht statt dessen von
“Mobilität”
. Ich will erläutern, inwiefern
“Steigerung der
Mobilität”
die lerntheoretische Version dessen ist, was bei den
Fichteanern
“Aufforderung zur Selbsttätigkeit”
hieß. Die
Problemstellung wird in folgender Experimentalanordnung deutlich:
[081:327]
“Zwei Dimensionen
(Farbe und Form) mit je drei Werten (Rot, Gelb, Grün;
Viereck, Dreieck, Kreuz) sind in einer Matrix so
multipliziert, daß die nebeneinanderliegenden Zellen
(die Zellen einer Zeile) alle die gleiche Farbe und die
untereinanderliegenden Zellen (die Zellen einer Spalte)
alle die gleiche Form haben. Man kann das Verständnis
für diese logische Multiplikation zweier Dimensionen
dadurch prüfen, daß man eine Zelle der Matrix abdeckt
und die Matrix ergänzen läßt. Die richtige Lösung
besteht darin, daß man die Form der Spalte und die Farbe
der Reihe bestimmt und die bestimmten Werte kombiniert.
Der typische Fehler des voroperatorischen Niveaus
besteht darin, daß nur auf eine Dimension geachtet wird,
also nur auf die Form oder nur auf die Farbe. Ein Pb kann nun leicht in einen Zustand mangelnden
Gleichgewichtes geraten, wenn er nämlich auf die
zunächst vernachlässigte Dimension achtet. Er wird in
diesem Falle seine erste Ergänzung (sein erstes Urteil)
als falsch ansehen und revidieren. Erst wenn beide
Dimensionen gleichzeitig beachtet und logisch
multipliziert werden, kann eine Vervollständigung der
Matrix stabil bleiben. Das Urteil erfährt dann keine
Veränderung mehr durch plötzliches Beachten der vorher
vernachlässigten Dimension, und wir können sagen, daß
nun ein höherer Grad des Gleichgewichts erreicht ist.”
(Montada 1970, S. 165)
[081:328a] Man
kann sich – wie übrigens sehr viele Experimente Piagets und seiner
“Schule”
zeigen – diesen Versuch sowohl
als Test wie auch als pädagogische Übungsaufgabe vorstellen. Als
Übungsaufgabe wurde |a 79|diese
Versuchsanordnung beispielsweise folgendermaßen verwendet: Ein
Kind, das über die Fähigkeiten der operativen Intelligenz nocht
nicht verfügt, wird aufgefordert, in raschem Wechsel mal das
fehlende Element in der Senkrechten, mal in der Waagerechten zu
bestimmen. Dabei lernt es, beide Dimensionen zu koordinieren,
also rasch zwischen beiden hin- und herzuwechseln; es steigert
also seine kognitive
“Mobilität”
.
[081:328b] Im
Prinzip wurde von Didier das gleiche verlangt: er wird mit einem
Problem konfrontiert, über dessen
Lösungswege er noch nicht verfügt; diese Lösungen werden ihm
nicht
“gesagt”
, es finden keine Belehrungen
statt. Vielmehr wird der kindliche Geist streng auf den Punkt
hingeführt, an dem er selbst die Lösung finden kann. Die Lösung
selbst ist dann nichts, was dem Kind äußerlich wäre, sondern sie
repräsentiert eine neu erworbene Kompetenz, eine neue operative
Fähigkeit des Kindes; diese Fähigkeit hat es nicht wie etwas
auswendig Gelerntes, sondern sie ist ihm
“eigen”
. Das ist es, was die Fichteaner
“aneignen”
nennen, zu einer solchen Aneignung oder
Kompetenz kann es aber nur kommen, wenn der kindliche Geist
selbst produktiv tätig wird. Auch das hatten die Fichteaner
formelhaft ausgedrückt, als sie sagten,
“seine Bildung verdankt es (das
Vernunftwesen) schlechthin sich selbst”
(Sauer)
oder
“der Mensch wird nur durch sich selbst
ein Mensch”
(Johannsen)
. Aber freilich bedarf es dazu der
“Aufforderung”
. Die Beispiele erläutern, daß
“Aufforderung”
zur Selbsttätigkeit nicht
einfach ein verbaler Appell ist. Diese
“Aufforderung”
ist, genau
besehen, eine ziemlich komplexe Handlung des Erziehers oder
sogar eine komplexe Serie von Handlungen in immer anderen
Situationen.
Gehen
[081:339] Der
“aufrechte Gang”
ist eine beliebte
aufklärerische Metapher. Sie hat zudem einen bildungstheoretischen Sinn, der
spontan plausibel ist: neben dem Sprechen-Lernen ist das Stehen- und
Gehen-Können des Kleinkindes Stolz der Eltern. Dieser Stolz hat ein
anthropologisches Motiv: sofern das Kind sich aufrichtet, seinen Blick in
die Horizontale bringt, ist es ein anderes als vordem, ist es im Prinzip und
sinnlich-anschaulich unseresgleichen; nun beginnt es auch zu re|a 80|den. Die große Faszination, die Kinder, die gerade
eben erst laufen können, für Erwachsene haben, beruht auf dem Eindruck
dieses Gerade-schon-aber-noch-nicht-ganz-Könnens, den uns ihr Anblick macht
– eine Differenz-Erfahrung, die der nur
“divinatorisch”
verstehbaren Erfahrung des Kindes entspricht: es kann nun fortgehen oder bleiben; es kann jenes von Freud interpretierte Spiel mit der Balance
zwischen Nähe und Ferne erweitern, und zwar qualitativ: nun kann es seinen
eigenen Standpunkt signifikant ändern (Freud deutete das Spiel des Kleinkindes mit einer Garnrolle, die es fortwarf und am Faden wieder heranholte, als kindliche Symbolisierung des Wechsels von Ferne und Nähe des geliebten Erwachsenen), es kann sich selbst hinzu- oder
hinwegbegeben; es kann Horizonte ausmachen, sie durch eigene Fortbewegung
verändern; es kann in Verborgenes Vordringen, Dinge von verschiedenen Seiten
sehen, sich neues Gelände erschließen.
[081:340] Eine solche Beschreibung ist abstrakt.
“Gehen”
bedeutet pädagogisch nicht immer dasselbe, wenngleich das historisch
Verschiedene seine Möglichkeitsbedingung in jenem allgemeinen
anthropologischen Sachverhalt hat: wenn das Kind sich aufrichten kann, sich
den aufrechten Gang aneignet, dann gewinnt es damit eine empirische
Dimension möglicher Selbsttätigkeit; wie diese sich konkret gestaltet, hängt
an den historischen Bedingungen. Schwer zu interpretieren ist beispielsweise dieser Holzschnitt aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts: Ausschnitt aus: H.
Schäufelein, der Tod und die Lebensalter, um
1517. Holzschnitt, Berlin, Staatliche Museen Preußischer
Kulturbesitz, Kupferstichkabinett|a 81|Es scheint so, als würde hier dem Vorgang des
Sich-Aufrichtens und Gehen-Lernens größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Geste
der Mutter könnte gedeutet werden als liebevolle Unterstützung der
Selbsttätigkeit des Kindes, als Aufforderung, seine Kräfte zu erproben und
ihnen etwas zuzutrauen. Aber das Bild ist ambivalent, es signalisiert auch
Mißtrauen, Ungeduld, Kontrolle: das Bild läßt sich als Information über
wünschenswerte Apparate zur Dressur des Kindes lesen. Indessen: daß Kinder
auch ohne derartiges Gestell sich aufrichten und das Laufen lernen, war den
Zeitgenossen gewiß nicht verborgen geblieben. Worüber also informiert das
Bild? Offenbar über die effektivste, die rascheste Methode. Ein gleichsam mechanisches
Verständnis des Bildungsprozesses bahnt sich da an. Laufen-Können kündigt Selbsttätigkeit an, die eine wesentliche
Voraussetzung für die gesellschaftliche Brauchbarkeit des Kindes ist; die
pädagogische Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Prozeduren ihrer
Herstellung, die Aufforderung zur Selbsttätigkeit wird auf ein technisches
Machen reduziert (auf die an dieser Stelle sicher nötigen erziehungs- und
sozialgeschichtlichen Hintergründe kann ich hier nicht
eingehen). Der Gestus des Bildes müßte anders sein, wenn er jene Haltung des
Aufmerksam-Machens auf ein zu lösendes Problem ausdrücken wollte, die sich
im Rechenunterricht in Bonneuil
zeigte. Der Lehrer Didiers zeigte gleichsam nach vorn; die Mutter hier hält zurück,
ermuntert und bremst, unterstützt und kontrolliert zugleich.
[081:341] Aber vielleicht ist
“Gehen”
ein ungeeignetes
Beispiel, Selbsttätigkeit zu erläutern – es sei denn, man könnte plausibel
machen, daß das Kind dabei ein geistiges Problem zu bewältigen hat, dessen
Lösungswege es sich als Vernunftwesen aneignen kann. Ich denke, das läßt
sich zeigen oder doch wenigstens andeuten. Dazu muß man sich vorstellen,
welche kognitiven Probleme, welche Koordinierungsleistungen fällig sind, wenn das Kind sich (!)
aufrichtet und zu gehen beginnt: das gesehene Bild kippt nun in die Senkrechte als Normalform; Distanzen
und Perspektiven müssen dauerhaft in ein Verhältnis gesetzt werden; der nun
leichter mögliche Wechsel des Standortes verlangt eine Koordinierung der
Perspektiven; der subjektive Raum kann im Hinblick auf den physikalischen,
der physikalische im Hinblick auf den subjektiven relativiert werden; oben
und unten, vorn und hinten, links und rechts verlangen jetzt, wo die
adverbialen Bestimmun|a 82|gen variabel und teils
(rechts/links) austauschbar werden, eine Orientierung am handelnden
(gehenden) Ich und zugleich am (stehenbleibenden) Raum; Hinweg- und
Hinzubewegungen sind nun derart leicht auszuführen, daß das Kind nicht mehr
auf nur symbolische Handlungen angewiesen ist, sondern an der Herstellung
der Balance zwischen Nähe und Ferne aktiv sich beteiligen kann – eine neue
Quelle elterlicher Ängstlichkeit.
[081:342] Kein Zweifel: auch ohne hier eine entwicklungstheoretische Phänomenologie des Gehens zu referieren,
ist einleuchtend, daß die die Selbsttätigkeit des Kindes herausfordernden
Aufgaben hier strukturgleich denen sind, die sich beim Reden und Rechnen zeigten. Aber ist das auch noch der Fall dort, wo, im jugendlichen
Alter, ein Mensch große Teile seiner psychischen Energie auf das Fortgehen,
auf die Entfernung von seiner primären Lebenswelt und Tradition richtet?
Thomas Bernhard schreibt,
in Erinnerung an sein Jugendalter:
[081:343]
“Viele Jahre hatte ich an jedem Morgen aufwachend gedacht, daß ich
den von meinen Erziehern als Verwaltern mir
aufgezwungenen Weg abzubrechen hätte, aber ich hatte
nicht die Kraft dazu, so viele Jahre mußte ich diesen
Weg widerwillig und unter der größen Kopf- und Nervenanspannung gehen, bis ich
urplötzlich die Kraft gehabt habe, den Weg abzubrechen,
zu einer hundertprozentigen Kehrtwendung, an welche ich
selbst am wenigsten geglaubt hatte, aber eine solche
Kehrtwendung ist nur auf dem absoluten Höhepunkt der
Gefühls- und Geistesanstrengung möglich … Wir haben in
einem solchen lebensrettenden Augenblick einfach gegen
alles zu sein oder nicht mehr zu sein, und ich hatte die
Kraft gehabt, gegen alles zu sein, und bin gegen
alles auf das Arbeitsamt in der Gaswerkgasse gegangen … Sie (die Beamtin im
Arbeitsamt, K. M.) hatte mir, schon ganz verzweifelt über mich und
über ihren Karteikasten, eine Reihe von Lehrstellen
angeboten, aber diese Lehrstellen waren alle nicht in der
entgegengesetzten Richtung gewesen, und ich mußte ihre Lehrstellenangebote
ablehnen, ich wollte nicht nur in eine andere Richtung, ich wollte in die entgegengesetzte
Richtung, ein Kompromiß war unmöglich geworden … sie
verstand ganz einfach nicht, daß mich nicht die allerbeste Adresse interessierte, sondern nur die entgegengesetzte, sie, die Beamtin, hatte mich ganz einfach gut
unterbringen wollen, aber ich wollte ja gar nicht gut
untergebracht sein, im Gegenteil, ich wollte in die
entgegengesetzte Richtung, immer wieder hatte ich vorgebracht, in die entgegengesetzte
Richtung … bis die Adresse des Karl
Podlaha in der Scherzhauserfeldsiedlung an
der Reihe gewesen war … Diese Adresse käme für mich aber wahrscheinlich überhaupt
nicht in Frage, sagte die Beamtin, ohne den Satz, die Adresse kommt
für dich nicht in Frage, auch wirklich auszusprechen, alles an ihr und in
ihr behauptete das, aber genau diese Adresse war die |a 83|Adresse gewesen, die für mich in
Frage gekommen war, denn die Adresse des Podlaha war die Adresse genau in der
entgegengesetzten Richtung.”
(Thomas Bernhard: Der Keller,
Salzburg 1976)
[081:344] Dies ist ein für Pädagogen außerordentlich interessanter Text.
Was wir sonst, im Kontakt mit Jugendlichen, als Andeutung und Wiederholung
in vielerlei Kontexten, über oft Jahre sich hinziehend, erfahren, was in Interviews und anderen
Selbstzeugnissen Jugendlicher in einem breiten Spektrum von Metaphern, in
konventionalisiertem Vokabular und durch die syntaktischen Fügungen und
Brechungen alltäglicher Rede oft nur sich andeutend zum Ausdruck kommt, was
Jugendliche oft eher nur in Haltungen und Gesten, gelegentlich auch in den Slogans der Graffiti an unseren Mauern zu erkennen geben – das ist hier in
die knappe, eindeutige und immer wiederholte Wendung
“in die entgegengesetzte
Richtung”
verdichtet. Was sonst zumeist über Jahre sich hinzieht,
ist hier auf einen Punkt, in eine Entscheidungssituation zusammengezogen:
der (vermeintlich)
“richtige Weg”
steht gegen den
falschen, der
“lebensrettende Augenblick”
gegen das
“Lernmaschinenopfer”
, die
“Kraftlosigkeit”
gegen
“ich wollte leben”
, die
“Adresse in
der entgegengesetzten Richtung”
gegen die
“beste
Adresse”
usw.
“Gehen”
ist hier nur
“fortgehen”
, nahezu eine pure Negation; was im Rücken liegt, schrumpft zum Nichts, vorn liegt Alles:
“Wir haben in einem solchen
lebensrettenden Augenblick einfach gegen alles zu sein oder nicht mehr
zu sein, und ich habe die Kraft gehabt, gegen alles zu sein.”
[081:345] Diese Attitüde eines Jugendlichen, auch wenn heute wohl der Gang
zum Arbeitsamt weniger erfolgversprechend ist, tönt
“emanzipatorisch”
– aber ist sie es? Auf den
ersten Blick scheint sich dieser Text in die Reihe larmoyant-wütender
Abrechnungen mit Kindheit und Erziehung einzuordnen, die wir in vielen
zeitgenössischen Autobiographien und deren romanhaften Verkleidungen finden.
Da heißt es beispielsweise – und das
“Lernmaschinenopfer”
Thomas Bernhard scheint dazu
zu passen:
[081:346]
“Zu einer mir
nützlichen Ehrlichkeit seid ihr (die Eltern) nicht
qualifiziert gewesen. Ihr habt nicht genug über euch
selbst gewußt. Ich kannte meine Motive und Wünsche. Ihr
eure nicht. Ihr konntet euch selbst belügen. Ich nur
Euch”
(E.A. Rauter 1979, S. 29)
.
[081:347]
“Der Erziehungsterror
in jeder Küche Europas zwingt Menschen, |a 84|ihre Fähigkeiten mit ins Grab zu
nehmen”
(ebd., S. 27
[081:348]
“Im Grunde verlasse ich
meine kalte Kindheit, die kalten Eltern meiner Kindheit
… Ein Gefühl des Hasses, der Wut überschwemmt mich bei
dem Gedanken, daß sie mir immer irgend etwas nicht geben
wollten”
(K. Struck, Kindheits-Ende,
1982, S.
299)
[081:349]
“Ich bin dabei, meine
Kindheit zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war,
umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem
Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt … Während
meiner Kindheit ist mein Leib nie, meine Seele
tausendmal und öfter gestorben. Jetzt fühle ich mich als
einer, der auszieht, um das Kind, das ich war, zu
ermorden”
(J. Winkler, 1981, S. 148
f.)
[081:350]
“Erinnerungen
“werfen mich zurück ins Kellerloch
meiner Kindheit, wo an die schwere Eichentür kleine
Kinderhändchen patschten und der Kindermund
flehende Worte formte”
”
(ebd., S. 182)
[081:351] Thomas Bernhard hat Zweifel an derartig rascher
Abrechnung:
[081:352]
“Auf dem Baumstumpf
sitzend, frage ich mich nach meiner Herkunft und ob es
mich überhaupt zu interessieren hat, woraus ich
entstanden bin, ob ich die Aufdeckung wage oder nicht,
die Unverfrorenheit habe oder nicht, mich zu erforschen
von Grund auf. Ich hatte es nie getan, es war mir immer
verwehrt gewesen, ich selbst hatte mich geweigert,
Schicht um Schicht abzubauen, dahinterzukommen, ich fühlte mich nie dazu
imstande, zu schwach, zugleich unfähig, und was hatte
ich in der Hand und im Kopf für die Expedition, außer
Verschwommenes,
Verwischtes, unmutig Angedeutetes?”
(Th. Bernhard, 1981, S. 70
f.)
[081:353-354] Für den, der diese Zweifel nicht hat,
sieht allerdings die Alternative zur eigenen Schreckensfestung der
Kindheit so aus: Arne, der geliebte Mann, ist
“unfähig, seine eigenen
Verdrängungsmechanismen überhaupt als vorhanden zu
akzeptieren”
.
“Das heißt
wirklich, daß ich pädagogisch an ihn rangehe. Aber
das muß man bei einem so kaputten Typen (er wuchs 18 Jahre
lang in einem Erziehungsheim auf) doch auch.
Ich durchschaue seine Unfähigkeit, und er
durchschaut sie nicht. Ich hab’s ja hundertmal
‘diskutiert’
. Und wenn das nichts
nützt, muß ich mir halt andere
methodisch-didaktische Mittel einfallen lassen, um
ihm das klarzumachenDas heißt
wirklich, daß ich pädagogisch an ihn rangehe. Aber
das muß man bei einem so kaputten Typen (er wuchs 18 Jahre
lang in einem Erziehungsheim auf) doch auch.
Ich durchschaue seine Unfähigkeit, und er
durchschaut sie nicht. Ich hab’s ja hundertmal
‘diskutiert’
. Und wenn das nichts
nützt, muß ich mir halt andere
methodisch-didaktische Mittel einfallen lassen, um
ihm das klarzumachen”
(S. Merian, Der Tod des
Märchenprinzen, 1980, S. 216)
.
[081:355] In solchen Texten wird Selbsttätigkeit bereits als Idee
liquidiert. Die Selbstdeutung nach deterministischem Muster, das
kausalistische Schema, nach dem die Autoren sich als Opfer von Erziehung
interpretieren, hat eine Entsprechung (im letzten Zitat) in der Attitüde des
Machens; das Verhältnis zwischen Edukator und Edukandum wird, wie in jenem
Holzschnitt von 1520, nach Art
technischer und effektiver Eingriffe gedacht; nicht einmal die Haltung
mütterlicher Fürsorge bremst diesen Zugriff; daß er sich psychologisch oder
psychoanalytisch gibt (
“Arne braucht eigentlich eine Therapie”
, heißt es in dem letzten der zitierten Texte), macht ihn nicht
weniger manipulativ. Derartige Urteile mögen unangemessen scheinen, sind doch die
zitierten Äußerun|a 85|gen vermutlich durchaus
“echte”
, d. h. wahrhaftige Versuche, eigene Erfahrung
zur Sprache zu bringen. Im Hinblick auf Selbsttätigkeit ist aber weniger die
Intention, die gute Absicht entscheidend, als vielmehr der im Produkt
dargestellte Produktionsprozeß. Gewiß wollen alle
jene Autoren
“fortgehen”
im Sinne dieser Metapher, fort
von ihren konventionellen, als bedrückend und einschränkend, meinethalben
“repressiv”
, erlebten Herkünften; ob ihnen das in ihrem
eigenen Leben geglückt ist, läßt sich nicht beurteilen. In ihren Texten jedenfalls geriet es ihnen zur
Sentimentalität, ästhetisch gesprochen zum Kitsch, pädagogisch gesprochen
zur naiven Spontaneität. Aber Spontaneität ist nicht schon Selbsttätigkeit,
sondern allenfalls eine ihrer Bedingungen. Einerseits lernt das Kind – wie
der Holzschnitt erläutert – das
Laufen nicht allein, nur von sich aus; andererseits ist das physische
Laufen-Können erst die Exposition von
Koordinierungs- und Mobilitätsproblemen und nicht schon deren Lösung.
[081:356] Mit eben dieser Differenz setzt sich der Text Thomas Bernhards auseinander. Die ästhetische
Qualität jedes dieser Sätze liegt – im Unterschied zu den anderen Zitaten –
darin, daß die Mühe der selbstreflexiven Bewegung in ihnen unmittelbar zum
Ausdruck kommt. Zwar wird auch hier Klage erhoben gegen ein
Erziehungsmilieu, das nur Leiden ohne produktive Tätigkeit hervorbringt,
das, in der Sprache Piagets,
Akkomodation verlangt, ohne Assimilation zu unterstützen, das Kind zum
“Lernmaschinenopfer”
macht; zwar gerinnt auch hier der
Ausweg zur negativen Formel
“in
die entgegengesetzte Richtung”
. Derartige Stereotype oder
Klischees aber werden, gerade durch die hartnäckige Wiederholung in
nuancenreichen syntaktischen Variationen, in ihrem Bildungssinn gleichsam
ausgelotet; und dabei findet sich in der Tiefe nicht etwa irgendein
Schuldiger, finden sich nicht irgendwelche Umstände als die umgreifenden
Determinanten oder Ursachen, keimt deshalb auch nicht die Attitüde des
Machens, sondern die des Wollens:
“Eine solche Kehrtwendung ist nur auf
dem absoluten Höhepunkt der Gefühls- und Geistesanstrengung
möglich”
. Das
“Lernmaschinenopfer”
macht sich
selbständig, vollzieht die Kehrtwendung weg vom Elternhaus und bürgerlichen
Milieu, zugleich aber hin zu Arbeitsamt und der Adresse in der
Scherzhauserfeldsiedlung (dem Wohnquartier der Ärmsten in Salzburg). Das ist
ein Akt der Selbstbildung. In der Terminologie der Fichteaner gesprochen:
Die Vernunftkräfte des Jugendli|a 86|chen sind bereits so
weit gebildet worden, daß er nun in der Lage ist, sich selbst jene Probleme
zu stellen, die seine Selbsttätigkeit herausfordern. Der Weg in den Keller,
als Lehrling eines im Souterrain gelegenen Lebensmittelladens, ist für den
jungen Bernhard freilich
riskant – wie die Rede für Mirabeau, die Rechenaufgabe für Didier. Es ist zunächst nur die Exposition einer Möglichkeit.
[081:357a] Mögliches und Wirkliches kann aber zueinander in verschiedener Differenz stehen: das
mögliche Vernunftwesen Mensch kann als Bedingung dafür gedacht
werden, daß es, im Bildungsgang des Kindes und Jugendlichen, Wirklichkeit wird. Die durch Erziehung hergestellte
Wirklichkeit kann aber auch in Differenz gedacht werden zu dem,
was es zwar noch nicht ist, aber als künftige Möglichkeit sein
könnte. In Kleists Essay und Bernhards Autobiographie sind beide Fragen angesprochen. Sartres
Auseinandersetzung mit dem Dichter Gustave Flaubert liest sich wie eine
monströse Paraphrase zu diesen Andeutungen. Auf dreieinhalbtausend Seiten versucht Sartre
dahinterzukommen, was es mit dem Bildungsprozeß des kleinen
Gustave auf
sich hat, wie er – in der bisherigen Terminologie gesprochen –
vom möglichen zum wirklichen Vernunftwesen wurde, und wie er,
von dieser Wirklichkeit ausgehend, zur Möglichkeit seiner
eigenen Existenz voranzugehen versuchte.
[081:357b] Mein letztes Beispiel zur Erläuterung
“Selbsttätigkeit”
ist also der junge Gustave, von Sartre
interpretiert.
[081:358] Eine Verwandte Gustaves erinnert sich später:
[081:359-361]
“Meine Großmutter hatte
ihren ältesten Sohn lesen gelehrt. Sie wollte es auch
ihren zweiten Sohn lehren und machte sich an die Arbeit.
Die kleine Caroline lernte es neben Gustave
sofort, aber ihm wollte es nicht gelingen, und nachdem
er sich große Mühe gegeben hatte, jene Zeichen, die ihm
nichts sagten, zu begreifen, begann er, dicke Tränen zu
weinen. Er war jedoch durchaus lernbegierig und sein
kleines Hirn arbeitete … (später liest ihm Vater Mignot
Geschichten vor), und bei den Szenen, zu denen die
Schwierigkeiten des Lesenlernens führten, brachte Gustave als
letztes, für ihn unwiderlegbares Argument vor:
‘Warum lesen lernen, wo doch Papa Mignot
lesen kann?’
”
Und an anderer Stelle schreibt
dieselbe Frau:
“Das Kind war von
ruhigem, nachdenklichem Wesen und von einer Naivität,
von der es sein ganzes Leben lang etwas behalten sollte.
Meine Großmutter hat mir erzählt, daß es stundenlang,
den Finger im Mund, völlig abwesend und mit einem fast blöden
Gesichtsausdruck dasaß. Als er sechs Jahre alt war,
amüsierte sich ein alter Hausknecht namens Pierre über seine |a 87|Arglosigkeit, indem er ihm sagte, wenn er von ihm
gestört wurde: Geh einmal … in der Küche nachsehen, ob
ich dort bin. Und das Kind ging tatsächlich zur Köchin
und sagte: Pierre hat mir gesagt, ich soll
einmal nachsehen, ob er dort ist. Es begriff nicht, daß
man sich über es lustig machen wollte, und war ganz
verdutzt über das Gelächter, irgendein Geheimnis vermutend.”
(Zit. nach Sartre 1977, S.
11 und S. 15)
[081:362] Diesen und anderen Quellen über Flauberts Kindheit läßt sich folgendes Bild
entnehmen, das die Erwachsenen von ihm haben: Gustave war offenbar ein ängstliches Kind, in sich
zurückgezogen, etwas dümmlich scheinend, wenn nicht gar zum Schwachsinn
neigend, lernunwillig; die Mutter, so scheint es, ging auf dieses Kind mit
großer Fürsorglichkeit ein. Der Vater war ein erfolgreicher Arzt, ganz
Naturwissenschaftler, und Gustave sah ihm in seiner Kindheit häufig durch ein Fenster zu,
wenn er Leichen sezierte. Gustaves Geschwister waren für die Eltern durchaus erfreuliche
Gestalten, klug, strebsam, manierlich, gesellig. Gustave selbst dagegen:
“der Idiot
der Familie”
.
[081:363] Im selben Jahr noch, für das jene Verwandte Gustaves ihm seine
intellektuelle Mangelhaftigkeit bescheinigt, schreibt Gustave an seinen Freund Ernest Chevalier diesen
Brief:
[081:364] "Lieber Freund, Du hast recht, wenn
Du sagst, daß der Neujahrstag dumm ist, mein Freund, man hat den Tapfersten der Tapferen La Fayette
mit weißen Haaren die Freiheit der 2 Welten fortgeschickt. Freund ich werde Dir meine
politischen und konstitutionellen liberalen Reden
schicken, Du hast recht, wenn Du sagst, daß es mir Freude machen wird, wenn Du nach Rouen kommst das wird mir sehr große Freude machen…(Flaubert1977, S.
7).
[081:365] Und einen Monat später:
[081:366]
“Mein lieber
Freund, ich antworte Dir postwendend. Ich hatte Dir
gesagt, daß ich Stücke schreiben würde aber nein ich
werde Romane schreiben, die ich im Kopf habe und das
sind: die schöne Andalusierin, der Maskenball, Cardenio,
Dorothea, die Maurin, der unverschämte Neugierige, der
kluge Ehemann. Ich habe das Billardzimmer hergerichtet
und die Kulissen zurechtgestellt. Unter meinen
dramatischen Sprichwörtern sind mehrere Stücke, die wir
spielen können.”
(ebd.)
[081:367] Was liegt zwischen den Beobachtungen der Familienangehörigen und
diesen Briefen? Zwischen ihnen liegt, so Sartre, ein
“Entwurf”
,
eine
“Überschreitung”
:
“Sicher wird ein Existierender durch keine
Bestimmung geprägt, die er nicht durch seine Art, sie zu leben,
über|a 88|schreitet”
. Wer also über jene Fichteschen Bestimmungen hinauskommen will, wer
beschreiben will, was denn nun jener Begriff der Erziehung, über seine die Erziehungstheorie begründende Funktion hinaus, für den Vorgang der Bildung konkret
bedeutet, dem steht bevor, diese Überschreitung darzustellen. Sartre nennt die den Menschen
zunächst prägende Bestimmung
“Konstitution”
und den
Vorgang des Überschreitens zu einer neuen Bestimmung hin
“Personalisation”
. Wer also über Selbsttätigkeit reden will, muß den
Vorgang der Personalisation in Auseinandersetzung mit der Konstitution zur
Darstellung bringen.
[081:368] Das ist auch wieder nur eine Formel. Was es heißt, diese Formel
zu erläutern, hat Sartre
demonstriert: um nur in einem einzigen Fall klarzumachen, was Selbsttätigkeit ist,
brauchte er dreieinhalbtausend Seiten – und kam mit seinem Vorhaben nicht
einmal zu Ende. Das liegt am Gegenstand, der, wie Kafka
sagte,
“über Gedächtnis und Verstand weit hinausgeht”
, jedenfalls im Sinne (beispielsweise) eines akademischen Vortrags. Man kann sich diesem Gegenstand offenbar nur essayistisch nähern.
Zum Beispiel so – wie Sartre
im Fall Flaubert–, daß man fragt, wie denn dieses Kind Gustave
“sich zum Schriftsteller gemacht hat”
(Bd. 2, S. 16)
. Aber zur Beantwortung dieser Frage gehört vieles. Z. B.: Warum stand Gustave
so oft vor dem Spiegel? Wie hat er sich die anatomische Tätigkeit seines
Vaters
“angeeignet”
(um in der Terminologie der
Fichteaner zu sprechen)? Wie kam er, der angeblich nicht lesen und schreiben lernen mochte, als
10jähriger dazu, Theaterstücke zu schreiben? Was bedeutete es für ihn,
Schauspieler werden zu wollen? Was bedeutet es, wenn er sich selbst als
“Irren”
(fou) erläutert? Wie kommt es dazu, daß er schließlich eine
Sprache sucht, die von kalter Genauigkeit ist, in der Kunst und
Wissenschaft, wie er später sagt, zusammenfallen?
[081:369] Jede dieser Fragen zieht viele andere nach sich. Und keine
abstrakt-allgemeine Antwort könnte befriedigend sein. Will man zur
Selbsttätigkeit mehr sagen als Fichte und seine Schüler, dann hat Kleist die richtige Spur aufgenommen und
Sartre uns den Sisyphus-Charakter der Aufgabe
vor Augen gestellt.Da das nicht geht, breche ich besser an dieser Stelle
ab.
|a 89|
Literatur
[A08:3] D. Benner: Grundströmungen der
Erziehungswissenschaft, München 1978
[A08:4] Th. Bernhard: Der Keller, Salzburg
1976
[A08:5] Th. Bernhard: Die Kälte, Salzburg
1981
[A08:6] H. Boesch: Kinderleben in der deutschen
Vergangenheit, Leipzig 1900
[A08:7] G. Flaubert: Briefe, hrsg. von H. Scheffel,
Zürich 1977
[A08:8] F. Kafka: Brief an den Vater, in:
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß.
Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt 1953
[A08:9] H. v. Kleist: Über die allmähliche
Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Sämtliche Werke und Briefe,
hrsg. von H. Sembdner, 2. Band, München 1952
[A08:10] M. Mannoni: Ein Ort zum Leben, Frankfurt
1978
[A08:11] S. Merian: Der Tod des Märchenprinzen, 4.
Aufl., Hamburg 1980
[A08:12] L. Montada: Die Lernpsychologie Jean
Piagets, Stuttgart 1970
[A08:13] J. Oelkers / Th. Lehmann: Antipädagogik.
Herausforderung und Kritik, Braunschweig 1983
[A08:14] H. Pleßner: Die Stufen des Organischen und
der Mensch, Berlin 1965
[A08:15] E.A. Rauter: Brief an meine Erzieher,
München 1979
[A08:16] J.P. Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave
Flaubert 1821 - 1857. I . Die Konstitution, Reinbek 1977
[A08:17] K. Struck: Kindheits-Ende, Frankfurt
1982
[A08:18] J. Winkler: Menschenkind, Frankfurt
1981