Pädagogisch-hermeneutische Diagnose in der Jugendhilfe
[113:1] Für das, was ich im folgenden erörtern und darstellen möchte, sind
die im Titel gewählten Vokabeln vielleicht zu anspruchsvoll. Es ist nicht
meine Absicht, durch schwierige Ausdrücke imponieren zu wollen. Im
Gegenteil: Ich möchte erörtern, ob wir, neben den psychologisch und
medizinisch professionellen Wegen und Sprachspielen der Diagnose
verhaltensschwieriger Jugendlicher, noch einen anderen Diagnose-Weg gelten
lassen könnten, der sich einerseits der pädagogischen Alltagssprache bedient
und der andererseits die Redeformen, in denen solche Jugendliche ihre eigene
Lage, ihre Erfahrungen, ihre Erlebensweise darzustellen suchen, als
wahrhaftige Äußerungen über sich selbst ernst nimmt.
[113:2] Ein derartiges Unternehmen wird, so vermute ich, schon auf Anhieb
die Skepsis der medizinischen Kollegen hervorrufen, sofern sie nicht einer
phänomenologischen Tradition verpflichtet sind. Schon die Verwendung des
Ausdrucks
“Diagnose”
könnte, im Zusammenhang meines
Interesses zur Sprache gebracht, den Verdacht wecken, daß hier ein Terminus,
der relativ eindeutige Operationen des Feststellens bezeichnet, unzulässig
für etwas ganz anderes in Anspruch genommen wird. Um solchen vielleicht
voreiligen Zurückweisungen sofort zu begegnen, erinnere ich an die
Wortbedeutung von
“Diagnose”
: ein Wissen, das wir uns
durch sorgfältige Beobachtung und Unterscheidung über den Zustand von etwas
erwerben. Wie das im je einzelnen Fall geschieht und welche
Beobachtungswege, Vergleichungen und Redeformen gewählt werden, ist von
vielerlei abhängig, z. B. von der Lage des Falls, von den Interessen der
Diagnostiker, von dem partiellen Wissenssystem, das dieser zugrunde legt. So
gibt es also psychologische, psychiatrisch-medizinische, politische,
poetische und eben auch
“pädagogische”
Diagnosen. Ich
sehe überhaupt keinen vernünftigen Grund, die Verwendung des Ausdrucks
“Diagnose”
nur Psychologen oder Medizinern
vorzubehalten, oder gar die eine Form für seriöser zu erklären als die
andere. Freilich muß man deutlich machen, welchem Wissenstypus die
Verwendung des Ausdrucks je zugehört.
[113:3] Ich sollte also erläutern, was ich meine, wenn ich diese
Ausführungen als Beitrag zur Möglichkeit einer
“pädagogisch-hermeneutischen Diagnostik”
kennzeichne. Das Wort
“hermeneutisch”
hängt zusammen mit dem altgriechischen
Gott Hermes. Er war ein
Götterbote, der die Botschaften hin und her trug, möglichst zuverlässig.
“Hermeneutik”
heißt seitdem die Kunst, Mitteilungen von
anderen zuverlässig auszulegen, und zwar so, daß dabei die gemeinte Wahrheit
der Mitteilung ans Licht kommt. Einer der ganz elementaren Fälle einer
hermeneutischen Diagnose, aus dem Bereich der Pädagogik, ist der Erwachsene,
der die Bedeutung herauszufinden sucht, die im Schreien des Säuglings liegt;
denn es kann, der Möglichkeit nach, vieles bedeuten – und der Erwachsene
kann in diesem Fall auf nichts sich verlassen als auf seine eigene Erfahrung
mit diesem Kind, auf seine Empfindsamkeit für die Nuancen der Äußerungen des
Säuglings, auf seine Deutungs- oder Interpretationsfähigkeit. Im Prinzip ist
das Problem einer pädagogisch-hermeneutischen Diagnose auch im Hinblick auf
Jugendliche nicht anders. Erzieher sollten sich also durch das, was in
anderen Wissenschaften
“Diagnose”
genannt wird, nicht ins
Bockshorn |a 91|jagen lassen. Es gibt eben mehrere Arten
davon. Allerdings stehen alle vor der Schwierigkeit, sich bewähren zu
müssen. Bloße Andersartigkeit ist kein Gütesiegel. Im folgenden möchte ich
deshalb versuchen, das, was ich
“pädagogisch-hermeneutische
Diagnose”
nenne, auf den Weg zu bringen. Im Grunde ist das nichts
Neues; ich werde nichts anderes tun als das, was seit Pestalozzi und bis zu Aichhorn, Bettelheim oder Winnicott und in unzähligen Einrichtungen der Jugendhilfe täglich versucht wird, gleichsam nachzuerzählen, allerdings in Konzentration auf aktuelle Fälle und in dem Interesse an begrifflicher Klärung aus der Sicht der Pädagogik und keiner anderen Disziplin. In den Mittelpunkt meiner versuchsweisen Argumentation stelle ich Erfahrungen mit 16- bis 17jährigen männlichen Jugendlichen, die den größten Teil ihres Lebens zwischen Heimen, Pflegefamilien und kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung hin und her pendelten und für die eine spezielle Form von Betreuung für die Dauer eines Jahres entwickelt wurde. Unsere diagnostischen Versuche sind nur ein kleiner Teil unserer wissenschaftlichen Projektbegleitung.1
1Es handelt sich um ein Praxis-Projekt,
in dem männliche Jugendliche der angedeuteten Art ca. 8 Monate lang in
speziellen
“Erfahrungskursen”
betreut werden und
dessen wissenschaftliche Begleitung vom Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen
übernommen wurde (K. Mollenhauer, U. Uhlendorf). Zwischenberichte des Projekts und der
wissenschaftlichen Begleitung sind erhältlich über: K. Mollenhauer, Pädagogisches Seminar der Universität Göttingen,
Baurat-Gerber-Str. 4/6, 3400 Göttingen. Das Projekt wird von der
“Stiftung Deutsche
Jugendmarke”
finanziell gefördert.
Ehe ich
daraus berichte und unsere Deutungsprozeduren skizziere, möchte ich indessen
einige theoretische und methodische Fragen erläutern, die es mit der
Begründung der durchaus bescheidenen Diagnose-Idee zu tun haben. Mein
Beitrag verläuft also in den folgenden drei Schritten: Theoretische und methodische Vorüberlegungen (1), diagnostische Essays (2), Diskussion ihrer Zuverlässigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit
(3).
1.Theoretische und methodische Annahmen
[113:4] Was wir als das
“Seelische”
eines Menschen
bezeichnen, gar als das
“Gemeinschaftlich-Seelische”
(Psychosoziale), ist, wie jedermann weiß, ein höchst schwieriger
Sachverhalt. Es ist eine Konstruktion, aber eine solche, die wir
offensichtlich unabdingbar benötigen, um uns überhaupt wechselseitig
verstehen zu können. Alle Sätze, in denen wir
“Seelisches”
formulieren, sind deshalb nicht mehr als Vermutungen. Da
wir auf diese Vermutungen aber unbedingt angewiesen sind, sofern wir uns
überhaupt
“intersubjektiv”
verstehen wollen, sind wir
auch darauf angewiesen, solchen Vermutungen den Charakter einer möglichst
überzeugenden Behauptung zu geben. Die Geschichte unserer Gattung ist,
verständlicherweise, deshalb auch voll von solchen Überzeugungsversuchen.
Jeder dieser Versuche verwendet dabei ein je eigentümliches Vokabular oder
Instrumentarium, das als relativ zuverlässiger Indikator für das vermutete
Seelische genommen wird: szenisch-mythische Erzählungen, Körpersäfte,
poetische Redeformen, archetypische Figurationen, neuro-chemische Prozesse
usw. Allen Bemühungen unserer Gattung, in dieser Hinsicht Zu|a 92|verlässigkeit zu sichern, ist eines gemeinsam: es sind immer
hypothetische Verfahren des Schließens von einer (bewußten oder nicht
bewußten) Äußerung auf das, was wir Seele nennen.
[113:5] Andererseits gibt es, trotz des prinzipiellen Vermutungscharakters
jener Rückschlüsse, die merkwürdige Gewißheitserfahrung mit uns selbst, als
je einzelner Person. Wir verwenden nicht nur selbstverständlich das Wort
“Ich”
in unseren Sätzen, dieses
“Ich”
sagt sogar etwas über
“sich”
aus, womit dann die weitere
Merkwürdigkeit verbunden ist, daß wir aus
“selbst”
ein
Substantiv machen und nun von unserem
“Selbst”
reden, als
handele es sich dabei um eine Substanz, deren Dasein für uns ganz
unbezweifelbar sicher wäre. Es ist auch ganz und gar sinnlos, die Gewißheit
solcher Aussagen gleichsam von außen, vom Beobachterblick her, zu
bezweifeln. Wenn ich deprimiert bin oder, in poetischem Ausdruck, sage
“meine Seele ist betrübt”
, gibt es schlechterdings keine
logische oder empirische Möglichkeit, die Wahrheit dieses Satzes mit Gründen
zu bezweifeln.
[113:6] Das mag spitzfindig und wenig professionell klingen. Aber es ist,
wenn es zutreffen sollte, ziemlich folgenreich. Wir können uns also in der
Suche nach dem Seelischen offenbar von verschiedenen Seiten her nähern: wir
können, in gleichsam naturwissenschaftlicher Einstellung, dem nachforschen,
was somatisch jener Depression oder jenem seelischen Betrübtsein zugrunde
liegen könnte und dann dem Leibhaushalt der Zirkulation von Säften, von
cerebralen Vorgängen, von bio-chemischen Ungleichgewichten usw. nachgehen.
Wir können andererseits auch, in hermeneutischer Einstellung, die
symbolischen Botschaften zu entschlüsseln versuchen, die ein derart
depressives oder betrübtes Individuum uns übermittelt und so weniger nach
den somatischen Ursachen, sondern eher nach den lebensthematischen
Bedeutungen fragen, die uns darin mitgeteilt werden, vornehmlich in der
Rede, der Körpergeste, den ästhetischen Ausdrucksformen. Ebendies möchte ich
hier versuchen, im Sinne einer Komponente im Spektrum möglicher Zugänge zu
dem, was wir
“die Wirklichkeit des Seelischen”
nennen,
noch dazu eingeschränkt auf das Medium sprachlicher Mitteilungen.
[113:7] Wir haben ein pädagogisches Interesse. Das hat Folgen für Art und
Richtung der hermeneutischen Bemühungen. Pädagogik, also eine zuverlässige
und verantwortbare Leitung von Kindern und Jugendlichen zum Status von
Erwachsenen hin, hat es nicht nur, wie Alice Miller sich das beispielsweise denkt, mit
empathischem Mitleben zu tun, sondern mit Aufgaben. Ohne das hier durch die
zu dieser Frage reichhaltige wissenschaftliche Literatur zu belegen, möchte
ich nur auf die schier unendlichen Erfahrungen aller erzieherischen Berufe
verweisen, wo sich immer wieder zeigt, daß Entwicklungsfortschritte nicht
anders verlaufen als über das Lösen von Aufgaben, über das Neu-Balancieren
von Ungleichgewichten. Gelegentlich gelingt ein solcher Fortschritt nicht,
es tritt Stillstand, ein Treten auf dem Fleck, gar ein Rückschreiten zu
früheren Lösungswegen ein. Wir drücken derartige Schwierigkeiten, je nach
theoretischen Vorlieben, in verschiedenen Vokabularien aus der pädagogische Kerngehalt bleibt derselbe: Aufgaben – in
Beziehung zu sich selbst, in der Gestaltung von Beziehungen zu anderen
Menschen, in der Auseinandersetzung mit den dinglich-natürlichen
Gegenständen (Objekten) der äußeren Welt – können, in genannten schwierigen
Fällen, nicht so gelöst werden, wie es kulturell erwartet wird, vor allem
nicht im Hinblick auf ihre Stelle in einem von uns so ge|a 93|dachten Zeitkontinuum. Mit solchen Fragen haben es Pädagogen zu
tun. Das von uns benötigte Wissen ist also ein Wissen über die sinnvolle,
hilfreiche, je nötige Aufgabenstruktur pädagogischer Handlungen.
[113:8] Ein Teil derartiger Fragen hängt nun ziemlich dicht mit der
Leibhaftigkeit solcher Jugendlicher zusammen, von denen hier die Rede sein
soll. Unsere Leibhaftigkeit äußert sich zu allererst in Tätigkeit. Freilich
ist auch das Sprechen eine Tätigkeit, aber doch eine solche, die einerseits,
als Tätigkeit (
“Sprechakte”
), Sinn produziert,
andererseits aber auch möglichen Sinn leibgebundener Tätigkeit nur
kommentiert. Da es sich nun, angesichts der Eigenart und Herkunft der
Jugendlichen in unserem Projekt, um solche handelt, die ihre Lebensprobleme
über das Medium leibnaher Tätigkeit eher lösen als über das Medium der Rede
(und das dürfte in der Jugendhilfe immer noch die überwiegende Zahl der
Fälle ausmachen), konzentrieren wir unsere diagnostischen Bemühungen auf die
in der sprachlichen Selbstdarstellung zum Ausdruck kommenden
Tätigkeitsprobleme. Ebenso wie man aus Kinderzeichnungen oder
psychiatrischen Patientenbildern auf wichtige Lebensthemen, wenigstens auf
die formale Struktur derselben, schließen kann, im Medium einer Tätigkeit
und deren Produkt dargestellt, ebenso kann man auch, wie wir vermuten, aus
den sprachlichen Selbstdarstellungen Jugendlicher deren Thematik
erschließen, und zwar im Hinblick auf Tätigkeitstypen, um die herum diese
Thematik zum Ausdruck gebracht wird. Da schließlich nur wenige menschliche
Tätigkeiten denkbar sind, in denen nicht eine Aufgabe bewältigt oder gelöst
werden muß, sei sie nun individuell oder kollektiv, erscheint uns eine Art
von Diagnose gerechtfertigt, die als pädagogische die Tätigkeitsgestalt des
Jugendlichen in den Vordergrund rückt, und die als hermeneutische sich ganz
an die symbolischen Ausdrucksformen des Jugendlichen bindet – im hier
darzustellenden Fall freilich nur an die sprachlichen.
2.Diagnostische Versuche
[113:9] Wir haben – ich wies schon darauf hin – mit allen Jugendlichen
unseres Projektes zu Beginn ausführliche Gespräche geführt, die allerdings
nicht theoriegeleitet waren. Sie wurden so geführt, daß auch zur Sprache
kommen konnte, was in den Erwartungen des Gesprächspartners nicht vorgesehen
war. Die Auswertung dieser Gesprächsmaterialien erfolgte ohne Kenntnis der
Diagnosen, die zu anderem Zeitpunkt und von anderen Instanzen eventuell
schon einmal gestellt wurden. Erst nachträglich haben wir unsere Diagnosen
mit denen von anderen verglichen. Dennoch sind freilich auch unsere
Diagnosen nicht etwa frei von theoretischem Vorwissen. Wir betrachten sie
aber als ein gebildetes Ratespiel, d. h.: Wir verwenden bei der Deutung der Gesprächsprotokolle –
allerdings in gar keiner Hinsicht orthodox – die Wissensstände der Theorie
kognitiver Entwicklung (Piaget), der psychoanalytischen Tradition, der
phänomenologischen Lebensweltanalyse und der hermeneutischen bzw.
semiologischen Theorien zur Symbolisierung seelischer Ereignisse. – Was mit
diesen wissenschaftlichen Imponiervokabeln gemeint ist, wird nun hoffentlich
in den folgenden zwei Beispielen, in dem alltäglichen Sinne deutlich, in dem
es gemeint ist.
|a 94|
Holger
[113:10] Holger –
seit dem 10. Lebensjahr verhaltensauffällig, seit dem 12. Lebensjahr in
verschiedenen Heimen, Sonderschulabschluß mit 15 Jahren – sagt über sich und
seine Stellung in der Welt:
1.
[113:11] Die Erzieher nerven ihn.
2.
[113:12] Mit Erwachsenen hat er Probleme, unbestimmten
“Ärger”
.
3.
[113:13] Der Vater ist
“groß”
,
“Schlägertyp”
,
“Ärger”
zu Hause.
4.
[113:14]
“faul geworden”
, weil…
5.
[113:15] Dem Vater war’s egal
6.
[113:16] Der Vater ist häufig
“weggegangen”
7.
[113:17] Früher fand ich ihn gut, heute nicht mehr
8.
[113:18] Er war groß, LKW-Fahrer …
“was ich auch
gern wollte”
9.
[113:19] Später: kein LKW mehr gefahren … nur noch zu Hause
(arbeitslos) gewesen
10.
[113:20] Alkohol war im Spiel
11.
[113:21]
“Ärger”
mit Schwester
12.
[113:22]
“fast gar kein Verhältnis mehr”
zu
ihr
13.
[113:23] Vorschullehrerin
“bekloppt”
14.
[113:24]
“bekloppter Lehrer”
, ein
“großer dicker”
, der
“immer nur
recht hat”
15.
[113:25] ein neuer Lehrer,
“der ist dick”
, hat
mir welche
“geballert”
16.
[113:26] Erzieher sollten
“richtig
durchgreifen”
17.
[113:27] Ärger mit dem Erzieher
18.
[113:28] Unsicherheit in der Selbstbeschreibung seiner Situation in
Gruppe/Heim
19.
[113:29] Schule, Mathe: immer ganz gut, immer voraus
[113:34] Einzige genauere Beschreibung einer Interaktion mit
Ergebnis
25.
[113:35] dto.,
“provoziert werden”
26.
[113:36] würde niemanden vermissen, höchstens
“Frau
W.”
27.
[113:37] LKW-Fahrer als Berufswunsch.
“Mein Vater
hat gesagt …”
28.
[113:38] Sinn des Führerscheins:
“wegzukommen”
29.
[113:39] Vater:
“Stärke und so … habe ich alles
von meinem Vater”
,
“aber sonst das meiste von
meiner Mutter”
30.
[113:40]
“lange Strecken”
(mit LKW reizen
ihn)
31.
[113:41]
“Tja, das habe ich alles von meinem
Vater”
32.
[113:42] LKWs, Flugzeuge …
“kann ich drauf”
,
Doppeldecker
“sind mir viel zu langsam”
33.
[113:43] Wanderungen nicht so gern, aber
“Überlebenstraining”
,
“Einzelkämpferausbildung”
34.
[113:44] Gewichtheben
35.
[113:45]
“Kannst ja nicht immer auf’m
alten Stuhl da sitzen bleiben”
36.
[113:46]
“Ich wollt nicht nochmal anfangen mit
Schlägertypen wie mein Vater”
37.
[113:47] Was stellst Du Dir vor?
“Irgendwo da, wo’s
ruhig ist”
38.
[113:48] Mit Geld
“da hab ich so’n bißchen meine
Schwierigkeiten”
39.
[113:49] Drei Wünsche: Alles von vorne, kein Asthma,
“Eigenes Haus … wo’s ruhig ist”
40.
[113:50] Was für’n Gefühl hast Du (jetzt am Ende des Interviews)?
“Keins”
.
|a 95|
–
[113:51] Es bedarf keiner professionellen psychologischen Kenntnis,
um das Thema
“Vater”
zu identifizieren. Immer wieder
kehrt Holger auf
die
“Erlebnis-Figur”
zurück. Immer wieder wird sie
widersprüchlich charakterisiert: als bewundert und abgelehnt, als
Vorbild und Abschreckung, als anziehend und abstoßend, als
strukturierend und chaotisierend.
–
[113:52] Es gibt immer wieder Ärger mit Erwachsenen. Sie sind
gelegentlich
“bekloppt”
, gelegentlich wollen sie
“immer nur recht”
haben, manchmal sind sie zu stark,
manchmal zu schwach;
“klein”
und
“dick”
, aber zugleich
“durchgreifend”
scheint
am ehesten akzeptabel zu sein; d. h.: in der Körperdimension
überraschend und in der dazu scheinbar gar nicht passenden
“Geist”
-Dimension ebenso. Der akzeptable Erwachsene
muß also offenbar aus derartigen Widersprüchen gemacht sein.
–
[113:53] Beständig hat Holger
“Ärger”
in Beziehungssituationen, die er aber nicht
genau beschreibt. Zumeist handelt es sich um körperliche
Auseinandersetzungen. Die einzige, wenn auch äußerst knappe,
Beschreibung einer Interaktion mit Folge und Veränderung (Nr. 24, S. 16
des Interviews) ist rein spiegelbildlich (symmetrisch) konstruiert:
“Zu Hause, da hatten alle Angst vor mir … dann im
Heim … gings mir selber so”
. Es zeigt sich ein reines
Reiz-Reaktions-Schema, ohne das, was in der Literatur
“Perspektiven-Übernahme”
oder
“Empathie”
heißt.
–
[113:54] Holger interessiert sich für LKW-Fahren, Flugzeuge, Joggen,
Panzer; für alles, was schnell ist, womit man woanders hin kommt. Das
“Langsame”
schätzt er, so scheint es, weniger (
“kleine Dicke”
, die zugleich fix im Geist sind,
verblüffen ihn). Auch
“Wanderungen”
sind ihm zu
gemächlich; man kommt dabei nicht weit genug. Alles, was dauert, was
seine Zeit braucht, wofür Geduld erforderlich ist, bereitet ihm
Beklommenheit (Asthma!). Er will von allem
“weg”
.
Wohin, das weiß er nicht. Nur:
“Kannst ja nicht immer
auf’m alten Stuhl da sitzen bleiben”
(Nr.
35).
–
[113:55] Zu diesem starken Bewegungsimpuls steht scheinbar in
Widerspruch das Bedürfnis nach Ruhe, nach statischer Kraft, nach dem
erfüllten Augenblick.
“Schlägertypen”
“wie mein Vater”
mag er nicht, aber er will Karate
lernen (die Überlegenheit aus dem Stand). Er wünscht sich
Lebenssituationen,
“wo es ruhig ist”
, wo nicht
beständig Gegenwart auf Zukunft bezogen werden muß (mit Geld
“da hab ich … Schwierigkeiten”
). Er wünscht sich
Situationen, in denen keine Frustrations-Toleranz nötig wäre. Ihm
mißfallen die
“deferred-gratificationpatterns”
unserer Kultur (vgl. seine
Interaktionsbeschreibungen). Zyklische Situationen liegen ihm näher als
lineare (sein erster von drei fiktiven Wünschen ist:
“Alles nochmal!”
). Seine Antizipationen sind deshalb abstrakt:
wegkommen,
“was anderes”
,
“Ausland”
,
“schießen”
. Konkret ist das
Zirkuläre: Prügeln und geprügelt werden, groß und klein, der
Einzelkämpfer, stärker oder besser sein.
–
[113:56] Am Ende des Interviews sagt Holger auf die Frage, was für ein
Gefühl er nun habe:
“Keins”
. Das steht zum
Vorhergegangenen nicht im Widerspruch. Alle seine Äußerungen erscheinen
eigentümlich emotionslos, so als sei für Gefühle kein rechter Platz. Er
hat offenbar keine Freunde, auch würde er, bei längerer Abwesenheit oder
Trennung von seiner Gruppe, niemanden vermissen, höchstens
“Frau W.”
. Auch sein Vokabular enthält kaum
emotionelle Töne, bis auf das Bedürfnis,
“weg zu
kommen”
und
“Ruhe zu haben”
. Das läuft auf so
etwas wie Interaktionsvermeidung einerseits und auf die Erwartung
gleichsam technischen Interaktionsmanagements andererseits
hinaus.
|a 96|
[113:57] Die wesentlichen Themen Holgers scheinen also zu sein:
–
[113:58] die Ambivalenz starker Figuren, Bezugspersonen, durch die
Vater-Erfahrung geprägt;
–
[113:59] eine
“egozentrische”
Körperthematik, die
eher auf Energie und Bewegung (selbstzentrisch) als auf
Beziehungs-Figurationen hin orientiert ist;
–
[113:60] ein Interesse an Leistung durch Einsatz gegenständlich
gerichteter Kraft und an sehr raschen Erfolgserlebnissen;
–
[113:61] ein Bedürfnis nach – wie ich es etwas umständlich
formulieren will –
“solipsistischen Oasen”
, nach Ruhe
und Geborgenheit, nach In-sich-ruhen-Können, ohne mit Erwartungen
konfrontiert zu werden.
[113:62] Für den Umgang mit Holger ergeben sich daraus zwei wesentliche Grundsätze:
1.
[113:63] Unterstützung seines körpernahen Interesses an
gegenständlicher Auseinandersetzung;
2.
[113:64] Respekt vor seiner Vermeidung von dichten Gruppen- bzw.
Beziehungs-Kontakten.
[113:65] Da nun – wie eingangs erläutert – eine pädagogische Diagnose ihr
Besonderes darin hat, daß sie aufgabenorientiert ist, müßte nun also ein
Aufgaben-Typus, eine Tätigkeit oder Tätigkeitsart gefunden werden, die für
Holger hilfreich
wäre bei seinen Versuchen, seine Stellung in der Welt der Objekte und
Sozialbeziehungen zu bestimmen und zu stabilisieren. (Wir haben, im Rahmen
unseres Projektes und dadurch vielleicht zu überkonkreten Vorschlägen
gezwungen, den verantwortlichen Bau einer Schutzhütte vorgeschlagen, weil
dabei eigene gegenständliche Tätigkeit, Beweise von Kraft und Kompetenz
nötig sind, schließlich auch, da Mitarbeiter gebraucht werden,
Kooperationsbeziehungen eingegangen werden müssen.)
Oliver
[113:66] Es handelt sich um einen Jungen, der demnächst 16 Jahre alt wird.
Er teilt im Gespräch das Folgende mit:
1.
[113:67] Über das Wohnen in einer Neubausiedlung, im Alter von 10 -
12 Jahren:
“Es war furchtbar, und da ist man
natürlich schnell in falsche Kreise gekommen, ne? Da lief auch
ziemlich viel Scheiße ab.”
…
“Geklaut,
geraucht… Und anschließend, wo wir weggezogen sind, hab ich dann
mal mit den Jungs ’n Hochhaus angesteckt, im Keller.”
2.
[113:68] Über seine Mutter:
“Die war nicht fähig,
mich zu erziehen! … Sie hat’s nicht geschafft, ist nicht mit mir
klargekommen. … Die war nicht autoritär genug … Hatte nicht
genug Zeit für mich”
.
3.
[113:69]
“Ich hab ’n Müllcontainer angesteckt, und,
hm – Genaueres weiß ich nicht mehr … es war eher unbeabsichtigt.
Wir haben bei dem Hochhaus im Keller mit Wunderkerzen
rumgeworfen.”
4.
[113:70] Er stilisiert sich als Sündenbock:
“Wenn
irgendwas passiert ist (in der Schule und anderswo), es kam was weg,
das war grundsätzlich ich … grundsätzlich ich … ’n Streich
passiert ist … grundsätzlich ich”
etc.
5.
[113:71] An Genaueres aber kann er sich nicht erinnern:
“Nö, genaues nicht”
; auch nicht an die Gründe zur
Heimeinweisung, auch nicht an die Anfangssituation dort, außer:
“Den ersten Tag hab ich mich natürlich ziemlich einsam
gefühlt”
. Auch an Hobbys kann er sich nicht erinnern:
“Kann ich mich nicht mehr dran erinnern. |a 97|Weiß ich nicht mehr. Ziemlich gern mit Feuer
gespielt!”
Ungefähr zwanzigmal taucht während des Gesprächs ein
Hinweis auf diese
“Erinnerungsarmut”
auf.
6.
[113:72] Die anderen – so meint Oliver – verstehen ihn nicht.
“Wenn ich was haben wollte, dann haben die das nicht
verstanden … sprachlich schon, aber sie haben’s halt nicht so
verstanden”
. Aber in der Erinnerung an derartige Situationen ist
er sich
“nicht ganz sicher”
. Sicher ist er sich
allerdings in den Verhältnissen zwischen oben und unten in der sozialen
Hierarchie: unter denen, die älter und stärker sind, leidet er; an
Jüngere und Schwächere gibt er den Druck weiter. Er durchschaut
das.
7.
[113:73] Schwierigkeiten entstehen, wenn nicht derart eindeutige
Relationen, Verhältnisse beschrieben werden sollen, sondern
persönlich-seelische Lagen:
“Der ist egoistisch, der
Typ, absolut egoistisch! Das war’n absoluter Egoist!”
Diesem aber
konnte er das nicht sagen,
“weil ich Angst hatte”
.
Genauer kann Oliver das nicht beschreiben – im Hinblick auf einen
Erzieher sagt er analog:
“Ich weiß nicht”
, einfach
nur
“absolut ekelerregend, der Typ … eine absolut
widerliche Art”
. Wirklich gut findet er Erzieher oder
Erzieherinnen mit einem gewissen Unterhaltungswert, die Späße machen,
die
“locker”
sind,
“nicht so
verkniffen, verkrampft”
. Und an dieser Stelle findet Oliver die einzige
starke Metapher des ganzen Gesprächs, freilich nicht von ihm selbst
erfunden, sondern nur verwendet, mit Bezug auf einen weniger
unterhaltsamen Erzieher:
“Wenn du X ’n Stückchen Kohle
in’ Arsch geschoben hast, haste 2 Wochen später ‘n Diamanten
gehabt”
. Aber Oliver läßt offen, während des Gesprächs, was er denn nun
von derart analen Charakteren, freudianisch gesprochen, im Hinblick auf
den so erzeugten Mehr-Wert hält.
8.
[113:74] Für sich selbst jedenfalls weiß er – es ist fast das
einzige, was er wirklich weiß oder zu wissen meint:
“Ich
bin nicht mehr tragbar… ich halt mich hier nicht an die Regeln …
daß ich hier nicht reinpasse”
, nirgendwohin. Selbst zu den
Skinheads, unter denen er sich gelegentlich aufhält, und zu anderen
Varianten dieses Szene-Spektrums, meint er nicht zu gehören.
“Sehe ich so aus?”
Wo jemand hingehört, das kann man
sehen, vor allem an den ästhetisierenden Accessoires: Skater, Waver,
Skinheads, Red Skins, Psychos. Den letzteren rechnet er sich selbst zu,
aber außer modischer Zugehörigkeit weiß er nichts darüber zu sagen:
“Psychos, das sind Leute mit ’nem Flat, roten Docks,
schwarzer Hose oder blau ausgefärbt …”
usw.
9.
[113:75] Richtig wohl scheint er sich bei gelegentlichen Treffs in
einer im Bau befindlichen Tiefgarage zu fühlen:
“30
Meter in die Tiefe … völlig geil … viele Löcher und Fallen …
paar Kästen Bier … Musik … Zum Schluß wird ’n Kanister Benzin
mitgenommen … und dann werden aus den Bierflaschen
Molotow-Cocktails, und werden da drin rumgeworfen”
.
10.
[113:76] Das einzige Motiv, das er für seine Beteiligung an unserem
Projekt angibt, ist:
“Dann denkt erst mal die
(therapeutisch orientierte Wohngemeinschaft), ich bin aus den ganzen
Kreisen (Skinheads usw.) raus, und dann würden se mich, wenn ich
mich da vorstelle … sicherlich nehmen”
.
11.
[113:77] Zu dem, was er vielleicht gut kann bzw. weniger gut oder
gar nicht, fällt ihm fast nichts ein, höchstens
“mit’m
Computer umgehen”
. (Er meint nur diejenige Nutzungsmöglichkeit
von Computern, die es mit Computer-Spielen zu tun hat.) Sonst:
“Ich hab keine großen Interessen”
. Alles Körperliche
ist ihm eher lästig oder unangenehm, vielleicht
“laufen,
kurz und schnell, und dann aber Ende”
.
“Wenn ich
irgendwo arbeite, dann mach ich das ganz schnell, Akkordzeit”
,
das wiederholt er |a 98|mehrmals. Was er allenfalls
liebt, ist:
“Große Teile aus’m Fenster werfen”
,
“aber hochschleppen – um Gottes willen!
Hochschleppen!!”
Ähnlich die Schule: er hat keine sagbaren
Interessen an irgendeinem der unterrichtlichen Inhalte:
“… Da muß man sechs Stunden rumhängen, hat man zwei mal zehn
Minuten Pause und muß den Rest der Zeit im Unterrichtsraum sitzen
… Furchtbar, die Schule!”
Aber er phantasiert für sich einen
“Realschulabschluß… Wär’ echt nicht
schlecht!”
12.
[113:78] Auf die Frage, welche Erwartungen, seiner Vermutung nach,
andere Menschen, auch Erwachsene, an ihn hätten, sagt er nur:
“daß ich mich an die Regeln halte”
.
[113:79] Sich an die Regeln zu halten, ist eine akzeptable Selbst- und
Fremderwartung, vor allem für Wissenschaftler. Wir, in unserem Projekt,
haben u. a. als Regel, oder besser als Maxime festgelegt, daß wir nicht den
vielen möglichen psychologischen Deutungen nachgehen wollen – Oliver präsentiert uns
dafür freilich eine große Zahl von geradezu lehrbuchhaften Selbstaussagen –,
sondern daß wir unsere sogenannte Diagnose an der Suche nach pädagogischen
Aufgabenstellungen zu orientieren versuchen. Nach Maßgabe dieses
diagnostischen Interesses fällt uns folgendes auf:
–
[113:80] Das Selbst- und Weltverhältnis Olivers ist merkwürdig
“abstrakt”
. Er lokalisiert und beurteilt sich und
andere vorwiegend nach Maßgabe von Klassifikationen, und zwar nach
äußeren Merkmalen von Zugehörigkeit. Das tun wir freilich alle
alltäglich; Oliver tut das nicht nur auch, sondern für ihn ist dies das
Ausschließliche und Wesentliche. Er will soziale Etiketten erwerben oder
sie gegen andere eintauschen. Außer
“Zugehörigkeit”
aber signalisieren diese Etiketten für ihn nichts; selbst persönliche
Beziehungen, von denen wir doch annehmen dürfen, daß sie für ihn
gleichsam
“innerlich”
folgenreich oder wichtig seien,
werden in der Form solcher klassifikatorischen Urteile zur Darstellung
gebracht (man darf sich hier durchaus an Kants Unterscheidung zwischen
klassifikatorischen
“Verstandesurteilen”
und dem
“reflektierenden Urteil”
in der sinnlichen Erfahrung
erinnern). Daß Oliver als einziges positives Interesse Computer-Spiele
nennt, paßt dazu so gut wie die Beschreibung seiner selbst als
“Regelverletzer”
oder als
“nicht
tragbar”
und die stereotype Beschreibung seiner Mutter.
–
[113:81] In derartigen Selbstdeutungen bleibt das organisierende
“Ich”
Olivers
eigentümlich blaß. Es taucht eigentlich nur in der Form einer
grammatischen Stelle auf, nur als ein formales Element, ein
Spielkasten-Baustein, den man hier oder dort unterbringen könnte, der
manchmal in das Spiel hineinpaßt, zumeist allerdings nicht. Wenn wir für
Jugendliche dieser Art den Ausdruck
“Sinn”
,
“Lebenssinn”
, so verstehen, daß Sinn-Entwürfe sehr
dicht mit der Erfahrung eigener Körperlichkeit und gegenständlicher
Tätigkeit verknüpft sind,
“Sinn”
also leibhaftiger
Sinn ist, dann scheint es, als leide Oliver unter Sinn-Armut.
Pointiert gesagt: er spürt weder
“sich”
noch die
gegenständliche Welt und ihren möglichen Inhaltsreichtum; derartigen
Spürens-Erfahrungen, wo sie sich einstellen könnten, weicht er sogar
eher aus. Sein Dilemma drückt er selbst ziemlich prägnant aus,
wenngleich in symbolischer Verschlüsselung:
“Computer-Spiele”
als leibfern-abstrakte Tätigkeit und
“Feuer-Spiele”
als Versuch, diese Ferne oder Leere
gleichsam auf einen Schlag zu überwinden oder zu füllen. Damit ist die
Richtung festgelegt, in der die pädagogische Diagnose nun fortschreiten
müßte. Es gilt, eine Reihe von Tätigkeiten zu finden, die es Oliver erlauben,
“sich selbst”
zu spüren, sich als Urheber, als
Verursacher von etwas zu er|a 99|fahren, in denen die
Symbolik von
“Feuer”
und
“Computer”
aufgehoben bleibt, in denen gegenständlicher Sinn sich
konturieren, an dem also Interesse sich bilden kann. Derartige
Tätigkeiten müßten möglichst
“elementar”
sein. Sobald
nämlich ein solches Tätigkeitsangebot sich als nichts anderes erwiese
als ein Baustein unserer standardisierten Curricula – sei das nun der
Fächer-Kanon unserer Schulen oder das geheime Curriculum des Alltags
stationärer Unterbringung –, wird Oliver, so vermuten wir, immer
wieder in seine leibferne Sinnleere zurückfallen, an die Oberfläche
klassifikatorischer Zurechnungen sich halten.
3.Anmerkungen zum Verfahren und
Selbstkritik
[113:82] Die Grenze bzw. die eigentümliche Beschränkung derartiger
Deutungen ist offensichtlich. Sie verzichten darauf, Verursachungsreihen zu
bestimmen – und also auch darauf, den pädagogisch-diagnostischen Gehalt
einer Lebensäußerung durch den Rückgriff auf lebensgeschichtlich frühere
Ereignisse zu erklären. Sie nehmen den Klienten im Status eines sich selbst
entwerfenden Individuums ernst, wie immer merkwürdig diese Selbstentwürfe
auch anmuten. Sie interpretieren den Jugendlichen oder das Kind nicht nach
Maßgabe eines – wie es heute häufig modisch genannt wird –
naturwissenschaftlichen
“Paradigmas”
, wie den Stein im
freien Fall oder die rollende Kugel auf schiefer Fläche, auch nicht als
Resultat multifaktorieller Wechselwirkungen, sondern als ein Wesen mit
Intentionen, Absichten, aktuellem Empfinden, Willen.
[113:83] Daß dies alles verursacht wird, ist dabei nicht bezweifelt,
Freilich ist es ganz unerläßlich, die gelegentliche Atemnot Holgers oder die
Vorliebe für das
“Zündeln”
Olivers auch
kausal-genetisch aufzuklären. Hermeneutische Diagnose ist deshalb kein
Deutungsweg, der gegenüber psychologischen oder psychiatrischen
Verursachungsannahmen gleichgültig wäre oder gar ihnen gegenüber sich
ignorant verhielte. Sie besteht allerdings darauf, daß es sich hier wie dort
nur um gebildete Ratespiele handelt. Allerdings sollte man die
hypothetischen Bestandteile dieses Puzzles kennen:
“cerebrale Dysfunktion”
,
“Ödipus-Komplex”
,
“Archetypus”
,
“Pyromanie”
usw.
Pädagogisch-hermeneutische Diagnosen sind also keine Alternative, sondern
höchstens eine Ergänzung, aber eine für die Behandlung wesentliche. Sie
erweitern, wie wir hoffen, das
“Ratespiel”
um die Fragen:
welche Form die Willensrichtung des Jugendlichen hat bzw. in welcher Weise
sie
“gebremst”
ist; was uns die Symbolik der Äußerungen
Jugendlicher über mögliche, noch verborgene, aber vielleicht produktive
Tätigkeitsperspektiven sagt; wie derartige Jugendliche ihr Leben inszenieren
bzw. welchem Inszenierungsangebot unserer Kultur sie sich anschließen und
welcher Lebenssinn für sie dabei artikulierbar wird; in welcher Richtung
schließlich eine sozial verträgliche Form des Lebens gesucht werden
müßte.
[113:84] Derartige Bemühungen werden allerdings nur dann überzeugend sein
können, wenn wir der Versuchung widerstehen, zwischen den verschiedenartigen
diagnostischen Prozeduren und prognostischen Hypothesen Hierarchien gelten
zu lassen oder zu konstruieren. Der Wahrheitswert einer Diagnose hat wenig
zu tun mit der hierarchisch organisierten Einkommensverteilung unter denen,
die sich an solchen Bemühungen beteiligen. In den tariflichen
Eingruppierungen
“spiegelt”
sich zwar gesellschaftliche
Wertschätzung, Status, wie wir sagen. Der Wahrheitsfindung aber muß das
nicht dienlich sein. Ob eine naturwissenschaftliche Konstruktion von Pa|a 100|tienten, Klienten, Kindern und Jugendlichen in
schwierigen Lebenslagen der Wahrheit näher ist als eine
kulturwissenschaftliche, läßt sich hier nicht entscheiden, weil wir über
zuverlässige Entscheidungskriterien nicht verfügen. Aber mindestens dies
läßt sich heute sagen: Wir befinden uns in einer historischen Lage, deren
Kultur im Übergang ist. Wir können nicht zuverlässig wissen, nach welchen
Regeln wir uns selbst und unsere Klienten konstruieren sollen, um noch human
zu nennende Lebensperspektiven zu ermöglichen. In solcher Lage, so scheint
es, ist zweierlei geboten, für alle, die sich an derartigen Bemühungen
beteiligen: eine sorgfältige Diagnose unserer kulturellen Situation und die
selbstkritische Abwägung des Beitrags, den unsere jeweilige theoretische
Herkunft (aus Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik beispielsweise) dazu
beizusteuern vermag – und ein Geltenlassen der je anderen Wege, ohne
imperialen oder dogmatischen Gestus. Der soziale Gestus, der historisch mal
von den Schamanen, mal von den Theologen, mal von den Philosophen, mal von
den Naturwissenschaftlern als hierarchische Ordnung des Heilens vorgegeben
wurde, entspricht unserer kulturellen Lage nicht mehr. Das hat Folgen für
die diagnostischen, prognostischen und Behandlungs-Prozeduren.