Wieviel kostet ein Kind? [Textfassung a]
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Wie viel kostet ein Kind?

– Anmerkungen zur Frage der Pflegekosten in Erziehungsheimen –

0. Einleitung

[077:1] Es ist schon eine eigentümliche Art von Bosheit, einen Hochschullehrer für das Fach Pädagogik zu überreden, über Kostenprobleme der Heimerziehung nicht nur nachzudenken, sondern das auch noch öffentlich zu tun. Noch schlimmer ist, wenn man dazu jemanden auswählt, der bisher noch keine wissenschaftliche Untersuchung zur Heimerziehung vorgelegt hat. Ich komme mir deshalb vor, als sei ich vom Veranstalter mutwillig auf’s Glatteis gelockt worden, – und dieser Eindruck hat sich verstärkt, als ich an die Vorbereitung des Referates ging. Angesichts des Sachverstandes der – wie man an der Literatur leicht sehen kann – sich zu unserem Problem in der Praxis versammelt und ausgebildet hat, bleibt mir kaum etwas zu sagen übrig, das Neuigkeitswert für Sie hätte oder sonst irgend Beachtung verdient. Meine einzige Chance ist deshalb meine Naivität.
[077:2] Ich habe mir selbst einige Fragen gestellt, die Fachleute vielleicht für
dumme Fragen
halten werden. Diese Fragen möchte ich nun erläutern und erörtern, und zwar in drei Schritten:
  1. 1.
    [077:3] Einige Zahlen und Berechnungen,
  2. 2.
    [077:4] Vermutungen über die Motive gegenwärtiger Kostenregelungen,
  3. 3.
    [077:5] Vermutungen über die historischen Hintergründe solcher Motive und
[077:6] als Schluß :Einige Maximen, die mir diskutabel scheinen.
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1. Einige Zahlen

[077:7] Sieht man sich unbefangen bzw. mit Naivität die Zahlen an, mit denen in Pflegesätzen operiert wird, dann ist man zunächst verblüfft: Da kostet also ein Kind im Heim täglich – sagen wir DM 150,--. Das sind viereinhalb tausend Mark im Monat!
[077:8] Donnerwetter – denke ich; eine Menge Geld. Hätte ich zwei solcher Kinder in meiner Familie, dann hätte ich ein Haushalts-Netto-Einkommen von 9.000,-- DM. Soviel bekomme ich vom Staat nie für meinen augenblicklichen 6-Personen-Haushalt.
[077:9] Aber ich will nicht an mich denken; das ist vielleicht unfair. Nehmen wir also den Haushalt einer Arbeiter-Familie: Warum bekommt nicht diese Familie das Geld, sondern irgendein Heim? Man sagt, diese Familie – deshalb sind die Kinder ja im Heim – sei nicht in der Lage, dem Kind einen befriedigenden Bildungsprozeß zu ermöglichen. Warum nicht? Man verschätzt sich vielleicht nicht allzu sehr, wenn man vorsichtig annimmt, daß ca. ein Fünftel der Kinder, die gegenwärtig in Heimen sind, deshalb dort sind, weil die materiellen Bedingungen zu Hause und deren Folgen für das Kind unterträglich werden. Welche Gründe sprechen dagegen, den Pflegesatz, oder sagen wir: nur einen Teil davon, diesem Haus halt zu zahlen? Bäuerle schlug schon vor 10 Jahren ungefähr DM 3.000,-- vor (das wäre ein Pflegesatz von DM 100,-- pro Tag). – Man sieht schon: Die Sache wird gefährlich! Unüberwindliche Erziehungsschwierigkeiten zu haben, würde einträglich. Aber es gehört noch ein anderer Sachverhalt dazu: Im Grunde erbringen ja alle Familien schon mindestens die Hälfte dieses Pflegesatzes an täglicher Erziehungsarbeitszeit, und zwar ohne das Geld zu bekommen. Es ist schon merkwürdig: lebt ein Kind in der Familie, werden außerordentlich wenig öffentliche Mittel aufgewandt; lebt es in einem Heim, steigt der öffentliche Wert des Kindes sprunghaft um das fünf- bis zehnfache an. Man könnte nun denken: Wunderbar! Soviel also sind uns die schwachen Glieder unserer Gesellschaft wert! Unter Sozialpädagogen ist je die moralische Formel beliebt, die Humanität einer Gesellschaft sei soviel wert, |a 29|wie sie für die Schwächsten leistet. Aber das ist ein schiefer Blick: Denn erstens – ein alter Hut – muß man mit anderen Positionen der öffentlichen Haushalte vergleichen und zweitens kann man sich fragen, warum das Geld nicht unmittelbar den Familienhaushalten gegeben wird. Was wäre eigentlich, wenn es die soziale Erfindung der Heimerziehung nicht gäbe?
[077:10] Ein ganzes Bündel von Rechtfertigungen fällt uns gleich dazu ein. (ich greife dieses Problem später noch einmal auf. Jetzt zunächst noch einige andere Beobachtungen:)
[077:11] Wenn ich mir die Pflegesätze aller niedersächsischen Heime anschaue, die der Pflegesatzvereinbarung beigetreten sind, dann kann ich mich – mit naivem Blick – schon wundern: Im billigsten Heim kosten die Kinder DM 67,-- am Tag, im teuersten DM 194,--. Warum das? Liegt es im Belieben eines Trägers, den Wert eines Kindes zu veranschlagen? Oder sind die Erzieher im ersten Heim vielleicht Idealisten, die dauernd unbezahlte Überstunden machen? Oder sparen die an den Kindern, um billig sein zu können, damit die Platzzahl möglichst ausgelastet ist? Oder kann vielleicht ein kleines Heim einfach rentabler wirtschaften? Gut; das ist eine Hypothese, die man prüfen kann. Ich rechne also.
[077:12] Aber dabei kommt nichts heraus. Es gibt keine signifikante systematische Beziehung zwischen Heimgröße und Pflegesatz (in Niedersachsen). Kleine Heime sind ebenso häufig billig oder teuer wie große.
[077:13] Aber vielleicht entspricht dem Preis ja die Qualität der Arbeit? Diese Frage wage ich gar nicht erst weiter zu verfolgen. Woran wollen wir Qualität messen? An den Mängelrügen der Heimaufsicht? An irgendwelchen
Erfolgsquoten
? An der Zahl der Kinder, die weglaufen?
[077:14] Zurück zu den Zahlen; mir fällt noch etwas auf, und zwar die Position
Kosten für Verwaltungsbedarf
. Jetzt bekommt die Sache sogar noch eine gewisse Komik: Je kleiner das Heim, umso höher |a 30|die Verwaltungskosten, und außerdem: Da werden manche Kinder mit DM 2,--am Tag, andere mit DM 9,50 verwaltet. Können die einen schneller schreiben als die anderen? Und was verwalten die anderen täglich für DM 250,--, wenn sie 26 Kinder haben?
[077:15] Es ist also ganz klar: Das stimmt überhaupt nicht. Hier schafft sich offenbar die gute pädagogische Vernunft einer sorgsamen Haushaltung ein wenig Luft gegenüber den Auflagen der Pflegesatzbehörde. Denn für jene DM 250,-- am Tag wird eben nicht
verwaltet
, sondern das Geld wird – wie ich vermute – vernünftigerweise für die Betreuung der Kinder verwendet; man hat eine zwar kleine aber immerhin bewegliche Masse. Oder anders ausgedrückt: Wenn man schon mit einer Finanzierungskontrolle leben muß, die pädagogischer Vernunft im Wege steht, dann darf man wenigstens ein bißchen mogeln.
[077:16] Derartige Beobachtungen – und Sie können sie aus eigener Erfahrung gewiß genauer, differenzierter und reichhaltiger beibringen – bestärken die Vermutung, die eigentlich der rote Faden ist, der sich durch die ganze Diskussion hindurch zieht: Die wesentlichen Schwierigkeiten, diejenigen nämlich, die die Erziehungskraft eines Heimes tangieren, liegen weniger in der Frage, welche Geldsumme für ein einzelnes Kind aufgewendet wird, als vielmehr darin, mit welchem Modus öffentlicher Kontrolle ein Haushalt leben muß, dessen einziger Zweck die Erziehung von Kindern sein soll. Dieser Modus ist das eigentlich Problematische. Ich will deshalb versuchen, mir – wenigstens skizzenhaft – klarzumachen, welche Motive hinter diesem Modus stehen.

2. Vermutungen über Motive

[077:17] Das System der öffentlichen Ersatzerziehung ist, ebenso wie das System der Familienhilfe, aus dem Geist öffentlicher Kontrollinteressen wie auch aus der Tatsache der Bevölkerungsexplosion entstanden. Mit der seit dem 16. Jahrhundert erkennbar werdenden |a 31|Vermehrung der europäischen Bevölkerung und dem ungefähr gleichzeitig entstehenden kapitalistischen Warenmarkt erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder, die in einem Haushalt zur Welt kommen, nicht mehr befriedigend sozialisiert werden. So entsteht ein eigentümlicher Widerspruch: Einerseits bildet sich das bürgerliche Leitbild von der besonderen pädagogischen Potenz der Familie aus, das, zunächst von den Konfessionen, von Humanisten, Medizinern, Pädagogen propagiert, vom Staat übernommen wurde und zu jenem Wetteifer geführt hat, in dem gegenwärtig die Parteien sich über eine den Familien dienliche Sozialpolitik befinden. Andererseits entsteht eine Bereitschaft, überall dort einzugreifen, wo die familialen Erziehungsbedingungen jenem Leitbild nicht entsprechen. Der Eingriff erfordert Personal, und dies verursacht Kosten. Die Frage, wieviel ein Kind kostet, kann überhaupt erst auf der Grundlage dieser Mentalität entstehen. Damit die Bevölkerungsexplosion nicht sofort zur Kostenexplosion wird und das Familienleitbild untergräbt, kann man Vorbeugen: Z. B. Familienfürsorge und Wohnungsbau. Damit aber, beispielsweise durch den Wohnungsbau, die Lebensweise der Haushalte nicht in ältere, weniger private organisierte Formen zurückfällt oder solche Traditionen aufrecht erhält, werden – nach einer ausdrücklichen Maxime z. B. Pariser Architekten im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts – die Wohnungen für die proletarischen Massen so gebaut, daß sie gerade groß genug sind, um Privatheit, Intimität, Individualisierung zu erlauben und nahezulegen, aber keinesfalls so groß, daß die Haushalte sich leicht nach außen (Verwandte, Freunde, Gäste) öffnen könnten. Was sich diesem Modell nicht fügen kann – ich vereinfache ein wenig, um das Problem zu pointieren – bedarf zusätzlicher Intervention und erfordert Kosten, z. B. in Form der Heimerziehung. Als vorzügliche Interventionsagenturen bieten sich zunächst die Kirchen an; sie verfügen über Kapital und Personal. Später übernimmt der Sozialstaat die materielle Komponente. Er übernimmt diese Kosten bereitwillig – was nicht heißt, daß er sich nicht zugleich auch möglichst niedrig zu halten versucht; so kann er die Abweichungen von jenem Familienleitbild und den diesem Leitbild entsprechenden Erziehungsleistungen |a 32|am ehesten kontrollieren. Auf eine Formel gebracht: Der Respekt vor der Privaten Selbständigkeit der familialen Haushalte, der sich in nicht rechenschaftspflichtigen Zuwendungen ausdrückt, endet da, wo diese Haushalte einen Weg nehmen könnten, der dem Leitbild nicht entspricht. Und das lassen wir uns was kosten!
[077:18] Da es sich um öffentliche Mittel handelt, muß ihre Verwendung – jedenfalls in einer Demokratie – kontrolliert werden. Niemand soll sich privat an öffentlichen Mitteln bereichern dürfen: Ein akzeptabler Grundsatz. Aber dieser Grundsatz wird erstens merkwürdig asymetrisch behandelt. Zwar ist einleuchtend, daß Familienhaushalte mit relativ wenigen öffentlichen Zuwendungen über die Verwendung dieses Geldes zum Wohle der Kinder nicht rechenschaftspflichtig gemacht werden. Man würde diese Haushalte ganz schön durcheinanderbringen und ihre Leistungen dadurch eher schwächen als stützen. Für den größten Teil der Haushalte gilt überdies, daß die zu kontrollierende Summe ziemlich klein ist. Aber: Es sind ja auch diejenigen Familienhaushalte nicht rechenschaftspflichtig, deren Zuwendungen durch persönliche Leistung kaum noch legitimiert sind, sondern auf öffentlichem Interesse an Sozialprestige beruhen. Auch für diese Haushalte gilt, obwohl die Tagessätze für die einzelnen Familienmitglieder die Pflegesätze unserer Heime erreichen und sie teils beträchtlich übersteigen, der Grundsatz, daß das Haushaltseinkommen zwar gezahlt, seine Verausgabung aber nicht öffentlich kontrolliert wird. Man kann das auch so formulieren: Aus dem privaten Charakter des Familienleitbildes kann man umso weniger Nutzen ziehen, je ärmer man ist. Nur Heime sind davon ausgenommen. Aber auch Heime sind Zwei-Generationen-Haushalte zum Zweck der Erziehung der nachwachsenden Generation. Warum behandeln wir sie nicht als solche Haushalte? Nur deshalb nicht, weil sie keine natürlichen Familien sind?
[077:19] Zweitens führt der Grundsatz, daß niemand an öffentlichen Mitteln sich privat bereichern solle, im Falle der Heimerziehung zu einer pädagogischen Skurrilität: Kontrollieren kann man umso besser, je genauer man differenziert, jedenfalls dann, wenn die Kontrolle |a 33|hierarchisch und nicht solidarisch ausgeübt wird. Das gilt für Wohnungsbau, Städteplanung, psychologische Diagnose, Unterrichtsfächer usw. so gut wie für die Kosten, die ein Kind im Heim verursacht. Also wird in den Pflegesatzfeststellungen eine differenzierte Kostenaufstellung nötig, die genauso, wie sie aufgestellt wurde, auch eingehalten werden muß. Nun weiß aber jeder, daß das nicht geht, es sei denn, man unterwirft den Erziehungsalltag einer Regel, nach der Unvorhersehbares möglichst eliminiert wird; Spontaneität unerfreuliche Störung ist; besondere Interessen und Vorhaben nur zulässig sind, wenn sie um ein Jahr voraus kalkuliert werden hier einmal verzichten um dort besonders Vergnügen haben zu können eine unerwünschte Form von Planung ist. Natürlich geschieht dies alles dennoch in den Heimen; aber durch wieviel Skrupel, Gewissensbisse, Rechnereien, Ärger usw. wird das erkauft? Und in manch einem Heim geschieht es dann vielleicht wirklich nicht! Ein Haushalt, der auf Erziehung hin angelegt ist, ist seiner Natur nach etwas anderes als der Haushalt eines Universitätsinstitutes, eines Krankenhauses, einer Kaserne. Die pädagogische Leistungsfähigkeit familialer Haushalte beruht u. a. auf ihrer ökonomischen Flexibilität, darauf, nicht an die festen Größen von Haushaltspositionen gebunden zu sein. Allerdings benötigen auch sie einen stabilen Sockel zur Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse wie Wohnung, Ernährung, Kleidung und, zwar ohne um seine Sicherung Jahr um Jahr besorgt sein zu müssen. Neben dem Interesse an der Sozialisationskontrolle und dem an der Finanzierungskontrolle sehe ich noch ein drittes Motiv, das den herrschenden Modus der Bemessung von Heimkosten für ein Kind und die Folgen für das Verhältnis der Heime zueinander bestimmt. Dieses dritte Motiv liegt im Subsidaritätsprinzip. Dies ist nun ein heikles Thems, weil hier Verfassungsnormen angesprochen sind und überdies, nach einer Phase heftiger Auseinandersetzung, alle sich beruhigt zu haben scheinen. Im Grunde profitiert ja auch jeder kleine Verein, der heute ein Heim führt, davon.
[077:20] Aber dieses Prinzip und die mit ihm verbundene Pluralität der Träger hat nicht nur das Gute, daß es private Initiative möglich |a 34|macht – jedenfalls eher als im Schulsystem. Es ist auch eine der Quellen für die Konkurrenz der Heime um volle Belegungen ihrer Plätze. Denken wir uns diese Situation einmal auf die Schule um: Schulen wären in dem Zwang, um ihre Schüler wetteifern zu müssen, und zwar nicht dadurch, daß sie sich dem Bürger gegenüber mit einer überzeugenden Unterrichtspraxis präsentieren, sondern dadurch, daß sie dem Schulträger besonders preiswürdig erscheinen; stellen wir uns vor, eine Schule müßte mit ihrer Schließung, alle Lehrer müßten um ihren Arbeitsplatz fürchten, nur weil die Schülerzahl um 15–20 % absinkt.
[077:21] Und nun zur anderen Seite, den Heimen hin, gefragt: Liegt der gravierende Unterschied zwischen den Heimen wirklich in der
Grundrichtung
der Träger? Spielt der Wille der Eltern, bei der Wahl dieses oder jenes Heimes konfessionellen oder ähnlichen Kriterien zu folgen, wirklich noch eine dominierende Rolle? Ich weiß es nicht. Ich vermute aber, daß – abgesehen von den Machtansprüchen weniger großer Verbände – derartige Gesichtspunkte längst außer Kraft sind. Im Vordergrund steht demgegenüber die Qualität der pädagogischen und therapeutischen Bemühung. Mit gutem Grund entscheiden Eltern heute, beim Schulbesuch ihrer Kinder, nicht über Konfessionen und dem, was ihnen ähnlich ist, sondern – beispielsweise und wenn der Schulträger vernünftig ist – zwischen Hauptschule und Gesamtschule.
[077:22] Gewiß wird die in der Jugendhilfe geschaffene Situation vorerst so bleiben, obwohl sie anachronistisch erscheint. Aber man kann doch vielleicht überlegen, ob nicht Elemente aus dem allgemeinbildenden Schulwesen übernommen werden könnte: Die Garantie von Personal und Wohnung beispielsweise. Ein großer Teil der Pflegesatz-Differenzen, die gegenwärtig durch unterschiedliche Gebäude-Schulden-Lasten entstehen und dem schuldfreien Träger einen Pflegekosten-Vorteil oder größere pädagogische Spielräume verschaffen, würde dann verschwinden. Dann erst würde auch ein alter, besitzreicher Träger in eine echte pädagogische Konkurrenz eintreten können mit einem jüngeren, der sich seine |a 35|Wohnungen erst schaffen müßte. Und dann wird vielleicht auch die
Grundrichtung der Erziehung
weniger durchschlagend sein als die Frage, was dem Wohle des Kindes dienlich ist. Im übrigen ist zu dieser Prüfung ja schon seit langem das Jugendamt verpflichtet. Meiner Meinung könnten die Jugendbehörden hier ganz gut noch weiter gehen und die Heimaufsicht wirklich in die pädagogische Qualität hinein verlängern, sofern sie nur bereit sind, damit auch prinzipielle Bestandsgarantien zu verbinden.

3. Was ist unser Interesse am Kinde?

[077:23] Wir befinden uns gegenwärtig vermutlich in einer historischen Situation, in der es allmählich ein schwer zu rechtfertigender Luxus wird, den Bürgern
Geld fürs Fortpflanzen zuzuschießen
(Heinsohn), und dies nicht etwa nur aus Gründen knapper Staatskassen. Eins der kräftigsten Motive staatlicher Familien- und Erziehungspolitik in der Neuzeit war die Bevölkerungsvermehrung, um durch vermehrte Arbeitskräfte den nationalen Reichtum steigern zu können. Allerdings wurde das Kind auf diesem Wege zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses. Es entstand, über einige Jahrhunderte hinweg, jener Habitus in der Einstellung zum Kind, der von vielen Sozialhistorikern heute übereinstimmend beschrieben wird; nämlich: Zunächst die medizinische Fürsorge, dann die Sorge um eine pädagogisch akzeptable Säuglings- und Kleinkinderpflege, die Überwachung und Beratung der Familie, das Lern-Training usw.. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir diesen Habitus bereits ausgebildet vor. Die Folgezeit befaßt sich im wesentlichen mit der Frage der Durchsetzung.
[077:24] Zu diesem Habitus gehört merkwürdigerweise auch die Individualisierung des Kindes. Es wird nun weniger als – mehr oder weniger wichtiges – Teil einer Familie, einer Haushaltung betrachtet, sondern als einzelner
Lerner
. Die Umwelt ist für diesen Lerner – besonders nach Maßgabe der Humanwissenschaften, die in diesem Prozeß kräftig eingreifen – das Ensemble von Bedingungen, die seine individuelle Lernfähigkeit und Lerngeschwindigkeit fördern |a 36|oder beeinträchtigen können. Der Haushalt, in dem das Kind aufwächst, verblaßt in solcher Perspektive zur Lernbedingung. Die individualisierenden Errechnungen von Kinder-Kosten-Sätzen sind nur ein Steinchen in diesem Mosaik des neuzeitlichen Habitus.
[077:25] Dazu aber steht eine andere Tradition in eigentümlicher Differenz: Unter Bedingungen einer familienwirtschaftlich organisierten Ökonomie, die entweder gar nicht oder nur locker mit größeren Märkten verknüpft ist, war das Interesse am Kind von anderer Art. Zwar war es auch hier zukünftige Arbeitskraft, aber in einem anderen Sinne: Die Arbeitskraft war ein konkretes, unmittelbar erfahrbares, für die wirtschaftende Gruppe lebensnotwendiges Datum. Dazu gehört dann allerdings auch der Familien-Zyklus von Armut (wenn die Kinder nur essen und noch nicht arbeiten) und Wohlstand (wenn sie mehr arbeiten als sie essen). Und es gehört dazu jene emotionelle Gleichgültigkeit, die es angesichts des individuellen Überlebens der Kinder gab: Aussetzung, Kindersterblichkeit, Kindestötung. Es gehörte aber auch dazu das Interesse an Kontinuität der Generationen-Folge und des Hauswesens im Ganzen, Kinder als Träger des Namens, nicht nur des materiellen sondern auch des kulturellen Erbes. Unter solchen Bedingungen ist nicht das Kind für sich von Interesse, sondern nur als Moment dieses ökonomisch-kulturellen Zusammenhanges. In der alten Ökonomik, der Lehre vom Hauswesen, tauchen deshalb Kinder und ihre Erziehung bis ins 15. Jahrhundert hinein nur an untergeordneter Stelle auf, wenn überhaupt. Die bürgerliche Familien- und Erziehungsphilisophie knüpfte nun hier an und versuchte, Heterogenes zusammenzubinden: Die pädagogische Individualisierung in der Betrachtung des Kindes und den Versuch, dennoch an der Idee einer lebensperspektivisch bedeutsamen Einbindung des Individuums in familiale Haushalte festzuhalten. Die Kapriolen, die wir in der familienpolitischen Diskussion heute beobachten können, hängen mit dieser Schwierigkeit zusammen.
[077:26] Ich habe diesen historischen Hintergrund – freilich recht grobschlächtig und ohne die Ursachen-Frage genauer zu diskutieren, |a 37|vor allem ohne die z.Z. entscheidenden Differenzen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erörtern – ich habe also diesen Hintergrund deshalb skizziert, weil ich denke, daß es gut ist, sich bewußt zu machen, daß unsere aktuellen Denk-, Zuordnungs- und Verteilungsgewohnheiten nicht einem aktuellen und unvermeidlichen Sachzwang folgen, sondern in Jahrhunderten gebildeten Einstellungen folgen. Wenn wir etwas wirklich ändern wollen, müssen wir diese Einstellungen ändern. Das gilt für die großen Probleme der Ökologie, der Kriegsgefahr, der sozialen Ungerechtigkeit, des Verkümmerns von produktiven Zukunftsperspektiven so gut wie für die vergleichsweise bescheidene Frage, wieviel Geld wir auf welche Weise für unsere Kinder aufbringen.
[077:27] Das uns hier interessierende Problem möchte ich noch einmal so formulieren: In der Entwicklung zur individualisierenden Betrachtung des Kindes steckt nicht nur – wie Michel Foucault und seine Freunde meinen – das Interesse an Kontrolle und Herrschaft über die Bürger und ihren Nachwuchs. Es ist auch Humanität darin enthalten, wenn es denn Humanität heißen darf, daß wir Kinder nicht einfach sterben, körperlich und seelisch zugrunde gehen lassen, nur weil der ökonomische Bedarf eine Sorge um den Nachwuchs nicht mehr erzwingt. Aber diese Humanität verträgt sich sehr wohl mit einem Denken, das wieder zurück geht (in einem guten Sinne von
konservativ
oder
radikal
) darauf, daß ein Gemeinwesen sich nur regenerieren kann über lebensfähige, d. h. ökonomisch stabile, kulturell gehaltvolle und in Richtung auf die Zukunft initiativreiche Kollektive, die die Kinder mit einschließen. Beispiele dafür, daß das geht, gibt es. Daß sie noch nicht massenhaft auftreten, liegt in der Natur der gegenwärtigen Situation. Aber die läßt sich ändern.
[077:28] Jetzt ist mir vielleicht doch die Rede etwas zu pathetisch geraten. Zurück also zu den ernsthaften Trivialitäten dieser Tagung.Wenn wir einen Haushalt, dessen Zweck in der umfassenden Erziehung von Kindern besteht, finanzieren, dann müssen wir (aus jenen Humanitätsgründen) zwar peinlich darauf achten, daß |a 38|jedes einzelne Kind zu seinem Recht kommt. Wir müssen oder sollten uns aber ebenso jene Perspektive wieder zu eigen machen, die – vor der bürgerlichen Familienideologie – in dem Mehr-Generationen-Haushalt, der selbständig und deshalb anpassungsfähig auf seine Umweltprobleme wie auf die Bedürfnisse seiner Mitglieder reagieren kann, die notwendige – freilich nicht immer hinreichende – Garantie für eine befriedigende Sozialisation sieht.
[077:29] Mindestens zwei unzeitgemäße Bedingungen sind erforderlich, um das zu bewerkstelligen:
[077:30] Man muß, um etwas Wichtiges an der einen Stelle zu machen, an einer anderen Stelle beliebig einsparen dürfen, und zwar sofort! Man muß die Rolle des Erziehers entspezialisieren, d. h., sie als komplexe Haushaltsfunktion sehen lernen und nicht als spezialisierte Fachtätigkeit zum Zwecke der Aufrechterhalten oder Optimierung von psychischen Funktionen. Einen guten Sinn macht nur beides zusammen. Eines allein geht nicht!
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[077:31] Ich komme zum Schluß.Kann man aus derartigen Überlegungen irgendetwas gewinnen? Ich will ein knappes Resümee in wenigen Maximen versuchen:
  1. 1.
    [077:32] Es sollten keine Kinder, sondern pädagogisch funktionsfähige Haushalte in Abhängigkeit von Größe und Zusammensetzung des Haushaltes finanziert werden. Ein Heim könnte durchaus mehrere Haushalte umfassen.
  2. 2.
    [077:33] Wie bei jedem Familienhaushalt auch, sollten die einzelnen Positionen wechselseitig deckungsfähig sein. Das ist eine entscheidende ökonomische Bedingung für pädagogische Flexibilität.
  3. 3.
    [077:34] Über eine Sockelfinanzierung benötigen die Heime ein Minimum an materieller Bestandsgarantie. Das betrifft vor allem Personal und Wohnung.
  4. 4.
    [077:35] Die einzig legitime Form von Konkurrenz der Heime – wenn man das dann noch so nennen darf – ist die über die pädagogischen bzw. therapeutischen Konzeptionen. Das wird nur gelingen, wenn die Pflegesätze sich derart annähern, daß tatsächlich die Differenzen nicht mehr ausdrücken, als eine Differenz der Konzeption.
[077:36] Das darin enthaltene Prinzip kann ich als Frage so formulieren: Nicht – wieviel kostet ein Kind? sondern: Wieviel braucht ein Haushalt, in dem einer Handvoll nicht recht glücklicher Kinder eine befriedigende Gegenwart und eine realistische Zukunftsperspektive vermittelt werden kann. Ob unserer Gesellschaft in dieser Frage ein Umdenken gelingt, weiß ich nicht. Martin Bonhoeffer und Peter Widemann haben gemeint:
Es könnte sein, daß die IGfH sich mit ihrer Jahrestagung 1981 übernimmt
. Ich jedenfalls habe gemerkt, daß ich mich übernommen habe.