15.1. Familie und Jugendamt
15.1.1. Vorbemerkung zum Objektbereich
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1.[053:6] Die über die sozialen Schichten hin ungleiche Rekrutierung der Klienten ist eine Folge entsprechend ungleicher Verteilung von interventionsbedürftigen Verhaltensmerkmalen.
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2.[053:7] Diese ungleiche Verteilung von Verhaltensmerkmalen ist ein Effekt sozialer Merkmalszuschreibung und den nicht institutionalisierten und gleichwohl selektiven Formen sozialer Kontrolle im Bereich primärer Lebenswelten geschuldet.
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3.[053:8] Sie ist darüber hinaus eine Folge entsprechend ungleicher Verteilung von Maßnahmen, dergestalt, daß auf gleiche Merkmale bei Angehörigen verschiedener sozialer Gruppen ungleich reagiert wird.
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4.[053:9] Sie ist eine Wirkung, die aus der Unangemessenheit der Erziehungsmittel jener Institutionen resultiert, also erst ein Effekt sekundärer Sozialisation.
15.1.2. Zur forschungsstrategischen Situation
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1.[053:13] Der Zustand der Familie als eines für die Mitglieder bedeutungsvollen Systems von Wertorientierungen, Inhalten, Interessen und Verhaltensweisen;
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2.[053:14] Der Zustand des Sozialarbeiters als eines Agenten, dessen Rolle durch die Institution (Jugend- oder Sozialamt) definiert ist und der infolgedessen in seiner Ermittlung bestimmten Regeln folgt;
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3.[053:15] Die Klassifikation von Ereignissen, die ein Teil jener Regeln sind und nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine erklärende Ordnung der Ereignisse vornehmen und zum Handlungsrepertoire des Sozialarbeiters gehören;
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4.[053:16] Die beiderseitigen interpersonellen Taktiken, die zur Explikation von Bedeutungen und Intentionen sowie zur Beeinflussung der Situation verwendet werden;
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5.[053:17] Die situationsspezifischen Deutungsmuster, die auf beiden Seiten zur Verfügung stehen.
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„(1)[053:19]Wenn soziale Gruppen oder Personen soziale Normen entwickeln, die Situationen und Verhaltensweisen definieren, in denen einige Handlungsweisen als richtig, andere als falsch bezeichnet werden,
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(2)[053:20]wenn sie diese Werte und Normen gegen andere soziale Gruppen und Personen, die nicht ihre Werte und Normen teilen, aufgrund der zu ihren Gunsten ausfallenden Machtdifferenzen erfolgreich durchsetzen,
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(3)[053:21]wenn die in diesem Prozeß unterlegenen Gruppen und Personen sich in ihrem weiteren Verhalten nicht an den durchgesetzten Werten und Normen orientieren …
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(4)[053:22]wenn darauf Gruppen oder Personen, die ihr durchgesetztes Interesse verletzt sehen und gewahrt wissen wollen, reagieren, indem sie öffentlich auf dieses oder nur ein vermeintliches Verhalten hinweisen,
15.1.3. Interaktion von Familie und Jugendamt
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1.[053:26] Auffällige Ereignisse können, neben anderen Alternativen, danach unterschieden werden, ob sie von der intervenierenden Instanz (Nachbarn, Erziehungsberatung, Jugendamt, Jugendgericht usw.) akzeptiert werden oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit des Akzeptierens steigt in dem Maße, in dem die Intervention sich die Orientierung der Betroffenen zu eigen macht, d. h. den in der primären Lebenswelt vorgenommenen Situationsdefinitionen folgt.
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2.[053:27] Auffällige Ereignisse können ferner danach unterschieden werden, wie weit sie eher positionale, d. h. an Rollen und Institutionen und deren Klassifikationen gebundene, oder personale, d. h. institutionsunabhängige Reaktionen zur Folge haben. Je nachdem, ob die positionale oder personale Bewertung ausschlaggebend ist, werden unterschiedliche Entscheidungen getroffen.
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1.[053:29] Die Reaktion ist auf der positionalen und der personalen Ebene durch das Akzeptieren der Klienten-Probleme bestimmt (Beispiel: Der Sozialarbeiter unterstützt eine Elterninitiative für die Kinder berufstätiger Mütter);
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2.[053:30] Die Reaktion ist auf der positionalen Ebene durch Akzeptieren, auf der personalen dagegen durch Ablehnen oder Ignorieren bestimmt (Beispiel: Hilfen bei unehelicher Geburt; Drogentherapie)
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3.[053:31] Die Reaktion ist auf der positionalen Ebene durch Ablehnung, auf der personalen Ebene aber durch Akzeptieren bestimmt (Androhung von Heimeinweisung eines Kindes gegen den Willen der Eltern);
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4.[053:32] Die Reaktion ist auf der positionalen und personalen Ebene durch Ablehnung bestimmt (Beispiel: institutionelle und persönliche Diskriminierung von sogenannten Obdachlosen-Familien)ø
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1.[053:38] Die Ausübung sozialer Kontroll-Funktionen der Jugendhilfe ist nur möglich, nur„effektiv“dadurch, daß Institutionen und Klienten in einer – wie auch immer verschwiegenen – Machtbeziehung zueinander stehen. Die Institutionen bedienen sich |a 328|eines Systems von Klassifikationen„relevanter sozialer Ereignisse“, in denen definiert ist, aus welchen Anlässen Interventionen geboten sind; sie bedienen sich außerdem eines Systems„theoretischer“Klassifikationen, in dem definiert ist, mit welchen Mitteln die Intervention vorgenommen werden soll, und d. h. wie die klassifizierten Ereignisse„erklärt“werden können. Also nicht nur Symptome und Anlässe für Interventionen, sondern auch Ursachen für jene stehen der intervenierenden Instanz als„Handlungswissen“zur Verfügung. Sie werden darin durch eine Forschungspraxis unterstützt, die sich ihrerseits jenen Klassifikationen anschließt. Daraus folgt die Annahme, daß der Typus sozialer Verwendungssituationen für das so erzeugte Wissen, der den Forschungsstrategien immanent ist, Situationen sozialer Kontrolle sind (vgl. dazu die seit ca. drei Jahren im geführte Diskussion. Die in der Sozialisations- und Erziehungsstil-Forschung gebräuchliche Dimension„control versus autonomy“, die dort zur Beschreibung von Interaktionsmustern zwischen Erwachsenen und Kindern verwendet wird, wäre sinngemäß auf diese Forschung selbst anzuwenden). Die Jugendhilfeinstitutionen haben durch die hierarchische Staffelung der einschlägigen Rechtsinstitute die Möglichkeit, ihre Klassifikation gegenüber den Klienten durchzusetzen. Selbst wenn sie davon keinen Gebrauch machen sollten, bleibt doch die drohende Möglichkeit der Sanktionen (Überweisung in Sonderschulen, Heimeinweisungen, Sorgerechtentzug, strafrechtliche Verfolgung usw.) ein Mittel, den offenen oder verdeckten Herrschaftsanspruch geltend zu machen.
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2.[053:39]In einer pointierten Formulierung ließe sich zu diesem Sachverhalt sagen, daß das Verhältnis zwischen Jugendhilfe-Institutionen und ihrer Klientel, insbesondere der in der Familie gegebenen primären Lebenswelt,„kolonialistisch“ist. Die Relevanz-Kriterien der dominierenden Kultur werden der sozial schwachen Gruppe imputiert, ohne Rücksicht darauf, daß die verwendeten Normalitäts-Indizes theoretisch problematisch sein mögen. Ein solches Verfahren ist gewiß – gemessen an den Zielen der Institution – praktisch zweckmäßig: es unterstützt die geltenden kulturellen und gesellschaftlichen Standards. Das aber kann keine zwingende Legitimierung von Erkenntnis-Strategien sein: Es gibt für die Forschungspraxis keinen wirklich triftigen Grund, sich gegenüber der Jugendhilfeklientel nicht„ethnomethodologisch“() zu verhalten, d. h. nach den Relevanzkriterien, Problem-Definitionen und Klassifikationen zu fragen, die in der primären Lebenswelt der betroffenen sozialen Subgruppe Geltung haben. Die Familien- und Sozialisationsforschung des gegenwärtig noch vorherrschenden Typs gewinnt ihre Fragestellung allerdings auf anderen Wegen: Sie orientiert sich
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–an den normativen Standards des Bildungswesens (Aufklärung von IQ-Varianzen, Differenzen im Leistungsverhalten, Differenzen im Problemlösungsverhalten angesichts von Problemen, die im Kontext von Bildungskarrieren auftauchen usw.),
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–an den Disponibilitäts-Standards der entwickelten Industriegesellschaft (Dominanz, Verhältnisse in der Familie, Rollentrennung im Ehe-Subsystem, pathologische Kommunikationsstruktur in der Familie, Privatisierung versus Integration des familiären Lebensraumes, Erwerbstätigkeit der Frau usw.),
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–an den Standards der Rechtsnormen, die„intakte Familie“betreffend (Vollständigkeit/Unvollständigkeit der Familie, deviante Familie, Stabilität der Familie usw.).
Selbst ein so differenziertes und dem Programm nach an den Problemen der Klienten orientiertes Projekt wie die St. Paul Studie (Birke 1971) verwendet im Hinblick auf Problemfamilien mit dem Begriff der„Adäquatheit“den Stabilisierungsinteressen des dominanten kulturellen Systems entnommen sind. Der zweite theoretische Akzent betrifft deshalb die Erforschung der primären Lebenswelt, wie sie sich in Familien und ihrer subkulturellen Einbettung darstellen. -
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3.[053:40]Folgt man diesen beiden Akzentsetzungen und den in ihnen enthaltenen methodologischen Hypothesen, dann läßt sich ein dritter Forschungsschwerpunkt folgern, der sich nun ausdrücklich die Beziehungen zwischen Jugendhilfeadministration und der„Problem“-erzeugenden Lebenswelt zum Gegenstand macht. Diese Lebenswelt ist im Beispiel der Familie am ehesten faßbar; sie darf zudem gegenwärtig immer noch als die einflußkräftigste Sozialisationsagentur gelten. Jugendhilfe-Maßnahmen werden immer dann aktuell, wenn Ereignisse drohen oder bereits eingetreten sind, die die kontrollierenden Instanzen vermuten lassen, daß die im familiären System auftretenden Probleme und die dort versuchten Problemlösungen nicht den Standard-Klassifikationen und ihren Bewertungen entsprechen. Tritt ein solcher Fall ein, dann wird für die Familie ein neues Interaktionsfeld etabliert, dessen thematischer Inhalt das Problem der Abweichung ist. Die Berufsrolle des Sozialarbeiters ist u. a. in diesem Kontext definiert: Er hat die Aufgabe einer Applikation der im Jugendhilfesystem institutionalisierten Klassifikationen auf den besonderen Fall einer primären Lebenswelt zu bewältigen. Cicourel (1968) hat in qualitativen Analysen der Protokolle von Gesprächen von Sozialarbeitern und Klienten zeigen können, daß dieser abstrakt formulierten These realer Gehalt innewohnt: Er hat gezeigt, daß im Gesprächsverlauf immer zweierlei zu bemerken ist:
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1.Sozialarbeiter und Klient folgen zunächst je besonderen und nicht zur Deckung zu bringenden Regeln der Definition von Situation, Problemen und Problemlösungen;
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2.Im Verlauf des Gesprächs, das als ein Aushandeln derjenigen Definitionen, die Geltung haben sollen, interpretiert werden kann, setzt sich die Definition des Sozialarbeiters als die des gesellschaftlich Mächtigeren durch, so daß das Ende den Anschein eines hergestellten Konsenses über geltende Regeln erweckt.
Der so beschriebene Typus sozialen Handelns – die Kriminologie hat inzwischen daraus weitreichende Konsequenzen für Forschungsstrategie und Forschungspraxis gezogen – ist indessen hier nur in einem besonders pointierten Fall dargestellt. Der angesprochene Konflikt zwischen primärer Lebenswelt und institutionalisiertem Herrschaftshandeln – so unterstellen wir – ist allgemein überall dort, wo die„Sozialwelt“sich in Hierarchien staffelt, die durch unterschiedliche Anteile an Lebens- und Beteiligungschancen näher bestimmt werden können. Kapitalistische Gesellschaften erzeugen eine Variante dieser Struktur. Die Familie – solange sie noch als Raum primärer Selbst- und Welterfahrung genommen werden darf – steht grund|a 330|sätzlich in Differenz zu den gesellschaftlich institutionalisierten und organisierten Erwartungen, jedenfalls dort, wo sie noch nicht solche Erwartungen zur innerfamiliaren Kommunikationsregel ritualisiert hat. -
15.1.4. Zur Lage der Familienforschung
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1.[053:42] Die Anfänge der„Gemeinwesenarbeit“in der lenken den Blick nicht nur auf das Wohnquartier als die„soziale Einheit“, mit der Jugendhilfe zu tun hat, sondern damit auch auf die Familie als eines der Elemente, dem bei den Versuchen, Beteiligung zu erhöhen, Apathie zu überwinden, Privatismus zu durchbrechen eine Schlüssel-Funktion zukommt (Müller/Nimmermann 1971).
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2.[053:43] Die Arbeit von Projektgruppen in Obdachlosenquartieren weisen, wenngleich für eine Extremgruppe, auf den unauflöslichen Zusammenhang zwischen materiellen Bedingungen, familiärer Kommunikation und Lern- und Lebensperspektiven der Kinder hin. Zumal konnte gerade sie die Differenz zwischen administrativen Steuerungsinteressen und primärem Lebensraum deutlich machen (Aich/Bujard 1972, Haag 1971, Iben 1971).
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3.[053:44] Die Kinderladen-„Bewegung“und die Entstehung von Wohngemeinschaften, obzwar sich aus Angehörigen der akademischen Mittelschicht rekrutierend, machte das Problem der„Gruppengrenze“der Familie zum praktischen Thema (vgl. Cyprian/Wurzbacher 1973).
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1.[053:46] Nach wie vor sind besonders in der soziologischen Forschungspraxis die am funktionalistischen Modell orientierten Untersuchungen sowohl der Zahl wie auch den Ergebnissen nach beträchtlich. Trotz erheblicher Themenvielfalt läßt sich die Fragestellung auf einen Nenner bringen: Forschungsgegenstand ist die Familie, sofern ihre Strukturmerkmale sich auf definierte Funktionen im gesellschaftlichen Kontext beziehen lassen. Das ist vor allem der Fall bei der Einübung von sozialen Grundrollen, der generativen Funktion, der Integration in das System der Arbeitsteilung, der Reproduktion sozialer Beziehungsmuster und Ungleichheiten. Konkret drückt sich diese Orientierung in Untersuchungen zur Geschlechtsrollendifferenzierung, zur Fa|a 331|milien- und Haushaltsgröße, zur Berufstätigkeit von Frauen (in unserem Fall besonders von Müttern), zu Fragen der Schichtspezifität von Familienstrukturen, zur Autoritätsproblematik u. ä. aus. In jenem oben schon zitierten Begriff der„Adäquatheit“des Funktionierens familiären Rollenverhaltens ist diese Forschungsrichtung mit der Jugendhilfe am Beispiel von Problemfamilien verknüpft worden.
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2.[053:47] Zum Umkreis der Familienforschung müssen wir auch jene Untersuchungen rechnen, die sich explizit der innerfamiliaren Sozialisation (Primärsozialisation) zuwenden. Die Literatur zu dieser Frage ist uferlos geworden, nicht zuletzt der nur schwer noch beurteilbaren Sekundärliteratur wegen. In der Form ihrer Fragestellungen schließt sie sich in der Regel, wenngleich nicht immer ausdrücklich, an den funktionalistischen Ansatz an: Ihre Ausgangsfragen orientieren sich an den institutionalisierten Verhaltenserwartungen (Leistungsmotive, Aspirationsniveau, Sprachstile, Selbständigkeit, kognitive Fähigkeiten, soziales Verhalten usw.), den„Steuerungsinteressen“der dominanten Institutionen. Dieser Ausgangspunkt hat eine Forschungsstrategie zur Folge, die in ihrem Effekt„individualätiologisch“genannt werden kann: Die Problemstellung ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen normativer Erwartung und tatsächlichem Verhalten von Individuen oder Gruppen. Das Nicht- Erreichen der Norm soll erklärt werden. Die„Ursachen“werden im Sozialisationsmilieu aufgesucht und – wenngleich auch für größere soziale Gruppen in vergleichbarer Situation konstatierbar – als prognosefähige Daten für individuelles Verhalten interpretiert. Im Bereich der Jugendhilfe herrscht dieser Forschungstyp gegenwärtig nahezu ausschließlich:„Familienforschung“ist hier in der Regel identisch mit der Suche nach Sozialisationsmerkmalen, die es erlauben,„abweichendes“Verhalten vorherzusagen. Die entsprechenden Studien über Pflegefamilien (Blandow 1972), Obdachlose (Iben 1971), Berufstätigkeit von Müttern (), frühe Mutter-Kind-Trennung (Lehr 1973 , Schmalohr 1973), u. ä. verfolgen, trotz z. T. kontroverser Interpretationen, keinen anderen Zweck. Gestützt wird diese Ausrichtung noch durch eine gerade im sozialpädagogischen Bereich nicht geringe Verbreitung von Theoremen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie 11
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3.[053:48] Ein dritter Forschungsschwerpunkt folgt dem systemtheoretischen Paradigma. Er unterscheidet sich vom funktionalistischen Ansatz – trotz mancher Ähnlichkeiten – vor allem darin, daß in ihm weniger nach den externen Funktionen der Familie als vielmehr nach dem inneren Zusammenhang der Systemelemente, nach deren Funktion im Hinblick auf das von der Familie definierte Gleichgewichts-Niveau gefragt wird. Charakteristisch für diese Forschungspraxis ist, jedenfalls gegenwärtig noch, eine eigentümliche Wendung der Methode: wir können sie als eine Form„klinischer Sozialforschung“bezeichnen, in der das analytische Instrumentarium sich vorerst in der Entschlüsselung von Einzelfällen bewähren soll. Wird das familiäre Gleichgewicht gestört – sei es durch äußere Belastung, sei es durch Ehekonflikte, Organschäden von Familienmitgliedern, durch institutionelle Eingriffe in die Familie – dann, so wird unterstellt, treten Verschiebungen, Veränderungen, Umdefi|a 332|nitionen von Beziehungen ein, die den Zweck haben, das Gleichgewicht wiederherzustellen, entweder im Sinne einer realistischen Neu-Äquilibrierung, oder im Sinne eines Pseudogleichgewichts, das den Familienmitgliedern erlaubt, ihr System als funktionstüchtig wenigstens zu erleben.„Pseudogemeinschaft“, Gruppengrenze als beliebig dehnbarer„Gummizaun“oder auch die„Sündenbock-Strategie“(Bateson u. a. 1969, Bell/Vogel 1969) sind Kategorien, mit deren Hilfe jenes von der Familie definierte Gleichgewichtsniveau begrifflich erfaßt werden soll. Unter den Elementen der familiären Kommunikation ist besonders die„double-bind“-Situation diskutiert worden, erzeugt durch eine interpersonelle Kommunikationstaktik, mit der zwischenmenschliche Beziehungen zwar für den überlegenen Partner (Elternteil) scheinbar im Sinne des familiären Gleichgewichts adäquat bewältigt werden, indessen aber auf Kosten schwerwiegender Orientierungsprobleme des abhängigen Partners (Kind). Beobachtungen und kategoriale Erprobungen dieser Art haben Watzlawick (1969) veranlaßt, eine am Systemansatz orientierte„Theorie menschlicher Kommunikation“zu entwickeln, die als eine Systemtheorie familiärer Pathologien gelten kann. Die dort im Interesse an einer Universalpragmatik zusammengenommenen Elemente aus soziologischer Rollentheorie, psychoanalytischer Theorie, Theorie symbolischer Interaktion und Informationstheorie scheinen geeignet, gerade im Zusammenhang der Jugendhilfe auftretende Probleme der Analyse von Familien mit problematischen Sozialisationsmilieus zu klären, und zwar ohne sich den institutionalisierten Problemklassifikationen kritiklos anzuschließen. Das normative Bezugssystem ist hier nicht der historische Stand institutionalisierter Erwartungen, sondern die Reziprozität und Reflektiertheit der kommunikativen Beziehungen. Der darin unterstellte Normalitäts-Begriff ist zwar formal, da er auf inhaltlich bestimmte Intentionen als Gegenstand der Analyse verzichtet. Er ist aber„kritisch“insofern, als er ein Maß für„Adäquatheit“eines sozialen Teilsystems angibt, das nicht dem faktisch gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang entnommen ist, sondern diesen gerade kontrafaktisch mit der Idee„störungsfreier“Kommunikation vergleicht.
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4.[053:49] An dieser Stelle hat ein Forschungsparadigma seinen ausdrücklichen Ort, das die primäre Sinn-Orientierung der zu untersuchenden Subjekte sich zum Thema macht: die„Deutungen, mit denen die Mitglieder eines Systems einander als Angehörige derselben Gruppe identifizieren und über die Gruppenidentität ihre Ich-Identität behaupten“(Habermas 1973, S. 13)„Angemessenheit“einer Forschungsstrategie nicht nur im Hinblick darauf geprüft werden muß, ob der in der Methode konstruierte Gegenstand auch wirklich zureichend erfaßt wird, sondern auch daraufhin, ob der„Gegenstand“so„wie er sich selbst sieht“, das, was er als Part in einem real gegebenen kommunikativen Netzwerk„ist“, zum Thema wird. Das bedeutet, daß dem instrumentell differenzierten Forschungsprozeß eine methodische Auseinandersetzung mit dem„Forschungsobjekt“vorgeschaltet werden muß, in der dieses sich als Subjekt von Selbst- und Weltdeutung darstellen kann (und zwar der Möglichkeit nach in Dimensionen, die von denjenigen abweichen, die überlieferter Forschungspraxis oder institutionellen Interessen entsprechen würden). Auch ein solcher Ansatz kommt in|a 333|dessen nicht ohne eine Dimensionierung des zu erforschenden Objekt-Feldes aus, weil anders Fragen gar nicht gestellt werden könnten. Allerdings werden diese zunächst in der allgemeinsten Form von Dingwelt, Sozialwelt und Zeitwelt (Schütz)) unterstellt, als Dimensionen also, von denen angenommen werden kann, daß sich die Erfahrungen von Subjekten notwendig in ihnen konstituieren.
15.1.5. Exkurs: Spezielle Probleme praxis-wirksamer Untersuchungsverfahren im Handlungsfeld der Jugendhilfe
15.1.6. Zusammenfassende Vorschläge
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1.[053:71] Analyse der Wohnquartier-bezogenen Lagen von Familien unter der Bedingung von Problemsituationen.
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2.[053:72] Biographisch orientierte Längsschnittuntersuchungen„auffällig“gewordener Familien und Familien-Gruppen.
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3.[053:73] Qualitative Fallanalysen von Familien ausgewählter Problemgruppen, besonders unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Bestimmtheit ihres„Alltagswissens“, ihrer Situations- und Problemdefinitionen.
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4.[053:74] Fallanalysen von Jugendämtern in Bezug auf das spezifische Klientel, Organisationsstruktur und Selektivität.
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5.[053:75] Untersuchungen des Feldes praktischer Interaktion zwischen Jugendamt und Klientel: die Interventionspraxis von Sozialarbeitern, ihre Interaktionsregeln und -taktiken und deren Wahrnehmung durch die Klienten.
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–[053:77] Wegen der Diskontinuität von Maßnahmen und Organisationsstrukturen können heute vom Jugendhilfesystem Forschungsresultate nur schwer sinnvoll und produktiv verarbeitet werden. Daraus folgt, daß Jugendhilfe-Forschung besonders bei der Herstellung von Kontinuität zwischen den verschiedenen Jugendhilfe-Bereichen mitzuwirken hätte und unter diesem Gesichtspunkt die Analyse der Institutionen, der Hierarchisierung der Maßnahmen und Einrichtungen und der Regeln, denen sie unausgesprochen folgen, zu betreiben hätte.
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–[053:78] Eine Änderung der Ausbildungswege für Mitarbeiter in der Jugendhilfe ist vermutlich für das kommende Jahrzehnt erst in Ansätzen zu erwarten. Daraus folgt, daß die Jugendhilfe-Forschung nicht nur„arbeitsplatznah“, sondern auch fortbildungs- und beratungsbezogen sein sollte.
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–[053:79] Die normative Orientierung der Praxis folgt in der Regel nach traditionell eingespielten Common-Sense-Standards. Daraus folgt, daß die Jugendhilfe-Forschung Wirkungskriterien allererst entwickeln müßte.
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–[053:80] Die gegenwärtige Situation ist dadurch charakterisiert, daß quantitativ relevante Veränderungsimpulse eher von den Landesbehörden und Großstadt-Kommunen, als von den privaten und kleineren kommunalen Trägern ausgehen. Daraus folgt, daß die Jugendhilfe-Forschung vorerst in Kooperation mit den parlamentarisch kontrollierten Administrationen durchgeführt werden sollte.