Familienarbeit – Familienbildung.
Thesen zur Struktur des Lernens und
seiner Störungen im familialen Lebensfeld
I. Die Sonderstellung der Familie im Erziehungssystem der Gegenwart
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1.[059:4] Die Familie ist auf eine Balance der Bedürfnisse und deren Befriedigung bei ihren Mitgliedern angewiesen. Insbesondere die Beziehung zwischen Mutter und Kind sichert im Regelfall – und im Vergleich zu anderen pädagogischen Institutionen –, daß Triebwünsche zugelassen, Abweichungen toleriert, Versagungen minimiert werden.
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2.[059:5] Die Familie ist eine Institution mit relativ flexibler Gruppengrenze. Der Erfahrungsraum, den die Familie dem Kind präsentiert, reicht im Regelfall über die Gruppenmitglieder hinaus: Verwandte, Freunde, Nachbarn beider Generationen gehören zum konkreten, durch face-to-face-Interaktionen bestimmten Orientierungsfeld und erweitern damit sowohl thematisch wie auch im Hinblick auf bestimmte Beziehungsdefinitionen den Erfahrungsraum über den institutionell definierten Rahmen hinaus.
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3.[059:6] Die Familie ist eine Institution, in der – trotz der Festlegung der sozialen Grundrollen Generation und Geschlecht – Beziehungsdefinitionen verschiedener Art von den Mitgliedern erprobt werden können.
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4.[059:7] Die Familie„wächst“gleichsam mit dem Älter-Werden ihrer Mitglieder; sie ist nicht nur die Summe der Biographien ihrer Mitglieder, sondern hat selbst eine Biographie.
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5.[059:8] Die Lernprozesse in der Familie sind (noch?) nicht vorwiegend nach den Kriterien kognitiver Einzelleistungen und einer intersubjektiv gültigen Standardisierung solcher Leistungen strukturiert, sondern nach den Kriterien der Balance von Bedürfnisbefriedigungen und der Beteiligung an einer gemeinsamen Lebenspraxis. Im Vordergrund der Problemdefinitionen und Problemlösungen stehen deshalb praktische Fragen.
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6.[059:9] Der familiale Lernprozeß qualifiziert die Mitglieder weniger für spezielle Tüchtigkeiten nach Maßgabe der Anforderungen im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Sie vermittelt eher – und für ihre jüngsten Mitglieder ausschließlich – die Grundqualifikationen des interpersonellen Handelns, des Umgangs mit Objekten und Lebenssituationen, die Strukturierung der eigenen Lebensprobleme in der Zeit-Dimension.
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7.[059:10] Die Familie ist eine Institution, die für das Kind und den Jugendlichen der Möglichkeit nach und im empirischen Regelfall eine Balance gestattet zwischen den Bedürfnissen nach Schutz, Akzeptiert-Werden, dichter persönlicher Beziehung und den Bedürfnissen nach Selbständigkeit, Leistung und Individualität.
II. Grundregeln des familialen Bildungsprozesses
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1.[059:13] Die Vorstellungen und Praktiken des öffentlichen Bildungswesens folgen einer Regel, die man in der Formel„Zergliedern und Addieren“zusammenfassend benennen könnte. Wir zerlegen das Lernpotential der nachwachsenden Generation in die kulturspezifisch erwarteten Einzelleistungen (und zwar in der Praxis wie in der Wissenschaft),„taylorisieren“sie gesondert in speziellen Prozeduren der Unterrichtung und erwarten, daß die so zerlegten Verhaltenssegmente an irgendeinem Punkt der Biographie wieder zusammengefügt werden 3). Diese„Taylorisierung“beschränkt sich nicht auf Produktionsstätten und Schulen; sie tritt – wenn ich recht sehe – in den letzten Jahrhunderten bis in unsere Tage mit wachsendem Universalitätsanspruch auf, hat inzwischen auch die Jugendhilfe erreicht und dringt (die ersten Vorboten waren bereits um 1800 zu erkennen) nun auch stärker in die Familie ein, und zwar z. B. dadurch, daß die antizipierten Leistungserwartungen der Schule die Orientierung von Eltern an dieser Regel zeitlich immer weiter vorverlegen. Demgegenüber gilt für die Familie immer noch – anders könnte sie als soziale Kleingruppe mit ihrer spezifischen Beziehungsdichte wohl kaum überleben – die Regel der Integration aller Erfahrungen des Individuums in |a 7|gemeinsame Situationen und in dessen Selbstdarstellung. Wesentliche pathogene Merkmale der modernen Kleinfamilie ergeben sich deshalb auch nicht etwa vorwiegend daraus, daß es ihnen an„Bildung“gebricht, so wie diese durch die Einrichtungen unseres Bildungswesens definiert ist, sie sind vielmehr Folge der Tatsache, daß der Familie die Realisierung dieses„Integration Code“, wie das einmal genannt hat 4), zunehmend schwerer gemacht wird.
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2.[059:14] Die Lernrhythmen innerhalb der Familie folgen – und auch das gilt nur vergleichsweise in bezug auf das Bildungssystem – den im Interaktionszusammenhang des Alltagshandelns auftauchenden Bedürfnissen. Die Lernprozesse innerhalb der Familie werden, mehr als irgendwo sonst in unseren Erziehungseinrichtungen, nach subjektiv bestimmten Zeitschemata strukturiert. Aber auch in dieser Hinsicht läßt sich eine Konfliktzone ausmachen: Mit dem Älterwerden der Kinder werden diese in die mechanischen Zeitschemata der Formen organisierten Unterrichts hineingenötigt 5); die Eltern können – um den Preis der Bildungschancen ihrer Kinder – nicht umhin, diesen Zeitrhythmus auch in die Planung ihrer Interaktionen mit den Kindern aufzunehmen. Außerdem sind sie selbst im Erwerbsleben der gleichen Regel unterworfen und unterliegen der Suggestion, den Familienalltag als den gleichsam negativen Abdruck ihres an Bedürfnisrhythmen desinteressierten Arbeitsplatzes zu strukturieren. Vergegenwärtigt man sich, von welcher Art die Probleme besonders der Mutter-Kind-Beziehung in den frühen Altersphasen des Kindes sind, dann wird zumindest plausibel, daß eine Unterwerfung des familialen Bildungsprozesses unter das mechanische Zeitschema Auswirkungen haben müßte, die wir vielleicht noch gar nicht genau beschreiben können.
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3.[059:15] Das Bildungssystem folgt – trotz einiger, aber wohl erfolglos bleibender Gegenbemühungen – einer Regel, die ich Abstraktion von subjektiv bestimmter Erfahrung nennen möchte. Sie beruht auf der Notwendigkeit, einer großen Zahl von jungen Menschen standardisierte Qualifikationen zu vermitteln; das erzeugt in der Schule beispielsweise das immer gravierender werdende Motivationsproblem. Noch nie aber war davon die Rede, daß Familien besondere Schwierigkeiten gehabt hätten, ihren Kindern die Grundqualifikationen der sprachlichen Verständigung, des Umgangs mit Gegenständen, des interpersonellen Handelns zu vermitteln. Was in der Schule die Regel ist, scheint in der Familie die Ausnahme zu sein. Der Grund dafür liegt darin, daß der Kontext des familialen Lernens das sinnvermittelnde Alltagshandeln, daß die Familie selbst ein Ort der Lebenspraxis und nicht nur ein Ort für deren Vorbereitung ist. In der Familie werden Erfahrungen nicht nur mitgeteilt, sondern gemacht, und zwar ebendieselben Erfahrungen, die als Mitteilungen von den Familienmitgliedern kommuniziert werden; das Lernen und die praktische Verwendung des Gelernten fallen in der Situation zusammen.
III. Gefährdungen der familialen Bildungsfunktion
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1.[059:18] Die erste Dimension nenne ich Isolierung versus Zerfall. Sie betrifft das Problem der Gruppengrenze. Isolierung soll heißen jene Abkapselung der Familie von ihrer sozialen Um- und Mitwelt, durch die sie sich als gleichsam monadische Realität bestimmt, nur noch minimal Austausch mit anderen Familien, unter gleichartigen sozialen Bedingungen, pflegt und ein emotionales Binnenklima schafft, das totalitäre Züge vornehmlich für die Kinder annimmt. Zerfall soll jener Zustand heißen, in dem die Gruppengrenze kaum noch erkennbar wird, die lebensgeschichtliche Bedeutung der innerfamilialen Beziehungen den außerfamilialen zum Verwechseln ähnlich wird und die Familienmitglieder mit ihren Rollen und Identitätsproblemen sich voreinander nicht mehr deutlich und konfrontativ darzustellen wagen.
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2.[059:19] Die zweite Dimension betrifft die Konturierung der Erfahrung. Die beiden problematischen Extreme könnte man metaphorisch so benennen: Familie als Subkultur und Familie als Warenhaus. Obwohl die Familie in der Aufrechterhaltung des Haushaltes eine eigene und nicht etwa nur |a 8|von irgendwoher abgeleitete Praxis hat, ist sie doch – in ihrer gegenwärtigen Form – sowohl von jeder gegenständlich-produktiven Arbeit wie auch von der öffentlichen Praxis des Gemeinwesens abgetrennt. Das ist es, was wir ihre„Privatisierung“nennen. Auf dem einen Extrempunkt der gedachten Skala finden sich solche Familien, für deren Erfahrungswelt nur noch die innerfamilialen Beziehungen relevant werden; die Gruppengrenze wirkt hier als Selektion von Erfahrungsgehalten: nur soche Informationen werden in die Familie hineingelassen, die für das interne Beziehungsnetz von Bedeutung sind (Beispiele: Overprotektion; Sündenbockstrategie; Eltern, die auf Elternabenden der Schule nur an Informationen über das eigene Kind interessiert sind). Der andere Extremtyp ist nicht weniger privatistisch; nur werden die Objekte der Erfahrung der Warenwelt des Konsums entnommen. In solchen Familien kann scheinbar über alles geredet werden: aber in der Fülle scheinbar gleichgewichtiger Informationen wird den Kindern keine Relevanz-Hierarchie deutlich, die möglichen Erfahrungen bleiben konturlos. Ist im ersten Fall der Erfahrungsraum rigide strukturiert und, wegen des Machtgefälles zwischen Eltern und Kindern, in der Regel vermutlich nach Maßgabe der elterlichen Lebensproblematik begrenzt, so droht im zweiten Fall eine Strukturierung überhaupt verlorenzugehen, wenn sie sich nicht – von den Familienmitgliedern unerkannt – als irrationale Abhängigkeit, als unterschwellige affektive Konflikte, als kommunikative Paradoxien vollzieht.
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3.[059:20] Die dritte Dimension betrifft die Dominanz-Probleme innerhalb der Familie. Waren es vor zwei Jahrzehnten noch vorwiegend die väterlich-autoritären Züge, die die Aufmerksamkeit von Pädagogen und Familienforschern fanden, so scheint gerade dieses Problem – wenngleich immer noch vorhanden – mehr und mehr zurückzutreten. Die Väter verlieren innerhalb der Familie an Bedeutung. Statt dessen scheint es, daß die affektiven Entbehrungen, denen das Erwachsenenleben, besonders in der Arbeitswelt, ausgesetzt ist, eine Verstärkung der Beziehungsdichte zwischen Mutter und Kind zur Folge haben. Wenn also seinerzeit die Studien des den autoritär-patriarchalischen als den Prototyp pathogener bürgerlicher Familie herausstellten, so müssen wir heute gleichsam mit einem geschichtlichen Gegenstück rechnen: einer Familie, in der die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind weit über die ersten Lebensjahre hinaus dominiert und auf diese Weise, auch wegen der Nichteinmischung des Vaters, ein„narzißtischer Sozialisationstyp“() entsteht, dessen problematische Auswirkung wir u. a. in der Motivationskrise der jungen Generation beobachten können 8).
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4.[059:21] Durch die Sozialisationsforschung ist uns seit langem bekannt, daß nicht nur die Schule durch ihre selektiven Funktionen eine„Zuteilungsapparatur für Sozialchancen“ist, sondern daß bereits in der familialen Sozialisation die Chancen-Spielräume entscheidend determiniert werden. Seitdem wird die pädagogische Leistungsfähigkeit der Familie auch daran gemessen, wieweit sie ihre„Zubringerfunktion“im Hinblick auf andere Erziehungseinrichtungen erfüllen kann. Im Hinblick auf ihr Bildungsmilieu ist dieser Maßstab ambivalent: einerseits setzt er die Familie unter Druck, andererseits ist er aber – wenn ich recht sehe – realistischerweise kaum gänzlich zu entbehren. Die Balance-Leistung, die die Familie zu erbringen hat, kann indessen nach zwei Richtungen hin verfehlt werden: der eine Fall ist die kognitive Deprivation der Familie, meist den sozio-ökonomischen Bedingungen geschuldet, unter denen sie leben muß. Der andere Fall ist die Instrumentalisierung der Familien-Interaktion für die institutionelle Bildungskarriere der Kinder, aber auch die Berufskarriere der Eltern. Im ersten Fall ist das familiale Beziehungssystem im Hinblick auf den oben beschriebenen familienspezifischen Bildungsmodus (die„Grundregeln“) möglicherweise noch intakt; sie wird dies dennoch, sofern sie vereinzelt bleibt, häufig nicht ohne Beschädigung überstehen, ist doch der Maßstab, an dem sie gemessen wird, gesellschaftlich dominant und für die Mitglieder materiell folgenreich. Im zweiten Fall indessen sind zwar individuelle Erfolgskarrieren in Aussicht, aber um den Preis einer Verstümmelung von Fähigkeiten interpersonellen Handelns, einer Beschränkung von Erfahrungs-Spielräumen, einer Unterdrückung von Antrieben und Bedürfnissen.
IV. Interventionen
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1.[059:23] In meiner knappen Darstellung habe ich hoffentlich deutlich machen können, daß die Familie als„Netzwerk von Beziehungen“,„Kommunikationssystem“,„Unit of Interacting Persons“, oder wie immer das in der Literatur genannt wird, ein zentrales Thema der Familienarbeit sein müßte. Die Eigentümlichkeit des sozialen Feldes„Familie“, die Differenz zwischen dem institutionalisierten„Bildungs-Code“unserer schulischen und schulähnlichen Einrichtungen, die Balance-Leistung, die von der Familie zur Vermeidung ihrer verschiedenen pathologischen Gestalten zu erbringen ist, verweist allemal darauf, daß es die Familienarbeit immer mit der Struktur, den Ritualen, den Beziehungsdefinitionen, den affektiven und kognitiven Dispositionen, den Kommunikationen und Metakommunikationen dieses höchst prekären Beziehungsnetzwerkes zu tun hat.
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2.[059:24] Die Familie ist – in unserer Kultur und vorläufig immer noch – ein lebenslanges Thema jedes ihrer Mitglieder. Ob man das nun beklagt oder für gut befindet: es ist ein Sachverhalt, mit dem wir rechnen müssen; nicht nur sie selbst hat eine Biographie, sondern diese setzt sich zusammen aus den Einzelbiographien ihrer Mitglieder. Die Familienarbeit hat es also mit diesen Biographien zu tun, mit denen der Kinder ebenso wie mit denen der Erwachsenen; sie darf deshalb weder„Erwachsenenbildung“noch„Erzie|a 9|hungsberatung“, noch„Arbeit mit Kindern“sein; sie müßte vielmehr alles zugleich sein. Die Familienarbeit bedürfte deshalb einer Organisationsform, die das ermöglicht.
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3.[059:25] Nicht nur die einzelnen Familienmitglieder, auch die Familie als Ganzes lebt innerhalb weiterer gesellschaftlicher Kontexte. Diese erst geben ihr – innerhalb gewisser Spielräume freilich – die Inhalte vor, die ihr zum Thema werden; sie präformieren auch die Gestalt-Probleme, die sie zu lösen hat. Gegenstand der Familienarbeit dürfte deshalb nie nur die einzelne Familie als gleichsam monadische Einheit sein, sondern müßte immer die Familie im Kontext ihrer nicht nur tatsächlichen, sondern auch möglichen weiteren Beziehungen sein: Familienarbeit wäre dann also auch immer Familiengruppenarbeit, Stadtteil-Arbeit, Gemeinwesenarbeit.
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–[059:27] daß die familialen Bildungsprozesse nicht vollständig funktionalisiert werden als Zubringerprozeduren für das Schulwesen,
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–[059:28] daß Familien- und Elternbildung nicht reduziert wird auf Trainingsprogramme der Erwachsenenbildung für den effektiven Einsatz von Erziehungsstilen,
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–[059:29] daß die Hilfe für die Familien nicht, in Ergänzung gleichsam der Erwachsenenbildung, sich den Ausbau von Einrichtungen zur Kinderbetreuung zum vornehmlichen Gegenstand macht,