[102:1] Eigentlich ist das Thema, über das ich sprechen will, gar nicht
vernünftig zu behandeln. Obwohl die drei Stichworte (Schule, Kunst, Leben)
in den verschiedenen Schulreformdiskussionen immer wieder, gelegentlich gar
inflationär auftauchten, verbindet sie miteinander doch eine ziemlich
glücklose Geschichte. Von der ironischen Behauptung Senecas, wir lernten nicht für
die Schule, sondern für das Leben, über die Versuche des Comenius, die
Schule als Metapher für lebenslanges Lernen zu verwenden, bis zu den
reformpädagogischen Ideen unseres Jahrhunderts, die Künstlichkeit dieser
gesellschaftlichen Einrichtung wenigstens dadurch zu mildern, daß sie zum
sogenannten Leben hin, heute sagen wir: zu den Alltagserfahrungen der
Schülerinnen und Schüler geöffnet wird, zieht sich die Linie einer
vergeblichen Bemühung, mit der der scharfe Bruch wieder aufgehoben werden
soll, der mit der Erfindung dieser merkwürdigen Einrichtung gesetzt war.
[102:2] Zwar schien das Problem um so dringlicher zu werden, je mehr Kinder
auf Schulen geschickt wurden, pflichtmäßig. Aber es blieb im Prinzip bei der
Regel und der Meinung der humanistischen und reformatorischen Schulmänner
des 16. und 17. Jahrhunderts: in der Schule gilt das Gesetz einer
organisierten formellen Instruktion, zweckrationales Lernen; und alles
Störende, die zuweilen ungeordnet scheinende Vitalität der primären Lebenswelten, müsse ferngehalten werden. Das ist
auch heute noch die Lage, und sie ist, wie mir scheint, unwiderruflich
systembedingt. Damit ist allerdings das kulturelle Unbehagen an dieser
Sachlage nicht verschwunden.
[102:3] Die schroffe Grenzziehung zwischen Schule und Leben wird
gelegentlich ausgefranst, z. B. in der Grundschule, z. B. in
Lehr-Lernstilen, z. B. in Kursen und Arbeitsgemeinschaften der Sekundarstufe
II, z. B. in den ästhetischen Fächern. Die Bemühungen also, die
Künstlichkeiten des schulischen Lernens mit dem Lebensalltag der Kinder und
Jugendlichen zu versöhnen, lassen nicht nach. Warum ist das so?
[102:4] Im Hinblick auf Probleme und Formen der ästhetischen Bildung ist
die Sachlage nicht weniger schroff. Was hat denn die Schule mit der Kunst zu
tun? Ist sie, die Kunst, nicht eine Angelegenheit von Erwachsenen? Außer daß
Schulbücher zum Zwecke des leichteren Lernens mit Holzschnitten illustriert
wurden, kam kein Schulmann der frühen Neuzeit – soweit die Quellen mir
bekannt sind – auf den Einfall, die Schüler mit den Arbeiten Dürers vertraut zu machen, sie
das Notenlesen zu lehren etwa am Beispiel von Madrigal-Partituren Hans-Leo Haslers, oder die Romane von Grimmelshausen in das Curriculum aufzunehmen.
Darüber denken wir heute anders – aber gibt es gute Gründe dafür? Zunächst
einmal gibt es Gründe dagegen, jedenfalls aus dem Lager der Kunst: Seit die
Kunst und die Künstler nämlich ihre eigene Autonomie entdeckten oder
propagierten, im 18. Jahrhundert, gibt es dort das Problem der Sezessionen;
wer auf sich hält; hält Distanz zu den Akademien, den Malerschulen, so als
sei Schule, allemal auf Tradition verpflichtet, der Feind der Kunst. Das ist
bis zu Josef Beuys so geblieben.
[102:5] Mit dem Verhältnis schließlich zwischen Kunst und Leben steht es
nicht besser. Die Frage, ob die Kunst das Leben bessern könne, also ob es
irgendeine Wirkbeziehung zwischen Kunst und praktisch interessiertem
Lebensalltag gebe, beantwortete G. Benn höchst skeptisch. Und vergleicht man die
Volksbildungsprogrammatik von J. Beuys mit den Reaktionen des Publikums vor seinen
Objekten, die Schwierigkeit, die auch fortgeschrittene Studenten mit den
Kompositionen Anton Weberns
haben, oder weiter in die Vergangenheit zurückgeblickt auf die Capricos
Goyas oder die Sinnbilder vom
Tod der Kommunikation Manets – dann möchte ich G. Benn recht geben: Weder kann die Kunst das Leben bessern noch ist sie lehrbar, also schulfähig. Kunst und Schule, Kunst und
Leben,
„Schule, Kunst und Leben“
innerhalb einer
Argumentationsfigur – das ist ein abartiges Unterfangen, das ist ein Irrweg,
eine Sackgasse, auf die uns Schiller verführt hatte, als er seine
„Briefe
zur ästhetischen Erziehung“
schrieb.
[102:6] So könnte man meinen!
[102:7] Damit nun aber mein Vortrag nicht schon an dieser Stelle und
entschieden vorzeitig endet, will ich versuchen, gegen den Strich zu
argumentieren, und zwar in drei Hinsichten:
[102:8] in Hinsicht auf die Lesbarkeit der Kunst (1),
[102:9] in Hinsicht auf das Verhältnis von
Verstand und Sinnlichkeit (2) und
[102:10] in Hinsicht auf die
Verschiedenheit der Sinne bzw. der Künste (3).
2. Verstand und Sinnlichkeit
[102:20] Um die Jahrhundertwende vermutete der Sozialphilosoph Georg Simmel, daß die
„Kultur der Individuen“
mit den Raffinements der
kulturellen Objektivation nicht Schritt gehalten
habe. Man kann diese Vermutung, auf die Gegenwart übertragen, so
formulieren: Die Lesbarkeit der Kunst stellt derart schwierige Anforderungen
(Diderot hatte es
geahnt), daß die Individuen mit ihren Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung
darin keine Befriedigung finden können. Sie suchen deshalb nach Formen des
ästhetischen Ausdrucks, der dem subjektiven Empfinden, der je individuellen
Befindlichkeit möglichst nahe ist. Mir scheint, daß Simmels Diagnose zugleich eine
Prognose war. Zwar nicht unter dem Namen
„ästhetische Bildung“
, aber unter dem der
„Therapie“
oder der
„Selbsterfahrung“
gedeiht gegenwärtig eine Art
ästhetischer Subkultur, in der es gleichsam um die andere Hälfte der
ästhetischen
„Alphabetisierung“
geht.
[102:21] Wenn denn die Künste, wie
Diderot
vermutete, eine eigentümliche Wirkung auf die Bildung des
Menschen haben sollten, dann liegt es nahe, diese Hypothese
nicht nur in Richtung auf die Rezeption, sondern auch in
Richtung auf ästhetische Produktion zu entfalten. Wenn überdies
– wie die neuen ästhetischen Selbsterfahrungspraktiken
unterstellen – die eigene ästhetische Tätigkeit etwas zu dem
Bewußtsein beizutragen vermag, das das Individuum
von sich hat oder entwickelt, dann liegt es nahe, das Verhältnis vonBegriff und Leiblichkeit genauer zu bedenken.
Dann wird
vielleicht auch verständlich, warum die Hersteller ästhetischer
Gegenstände, seit Beginn der Moderne im engeren Sinne, so
aggressiv-sensibel auf alles Schulische und Akademische
reagieren – und warum die Schule sich hartnäckig so schwer tut,
Kunst ohne domestizierende Abstriche in sich
aufzunehmen.
[102:22] Derartige
Problemstellungen – peinlich zu sagen, denn inzwischen gehört
dies zum elementaren Repertoire aller, die sich mit der
Bedeutung ästhetischer Theorie für Schule, Unterricht und
Erziehung auseinandersetzen – sind innerhalb unserer Kultur zum
ersten Mal von Kant und Schiller exponiert worden.
„Unter einer ästhetischen Idee“
, schrieb Kant,
„verstehe ich diejenige
Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken
veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter
Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich
keine Sprache erreicht und verständlich machen
kann.“
Was Diderot mit dem Wort
„Magie“
ästhetischer Objekte nur diffus benennen konnte, ist hier, weniger zauberhaft, als ein nachempfindbares Spiel
zwischen Einbildungskraft und Begriff gekennzeichnet.
Das hilft
weiter. Es macht uns die eigentümlich begriffslose Faszination
von Kunstwerken deutlicher, und es verhilft uns, besser zu
verstehen, was sich im Vorgang der je eigenen ästhetischen
Hervorbringung ereignet.
[102:23] Die Subsumption ästhetischer Zeichen unter die uns je geläufigen
Begriffe des Verstandes betrifft gleichsam nur die akademisch-schulische
Lesbarkeit ästhetischer Produkte; in dieser Hinsicht sind sie Kulturdinge unter anderen Kulturdingen (wie Schrift, Werkzeug, Wohnungsgrundriß,
Waschmaschine, Landkarte, Formel usw.). Als
„Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt“
, sind derartige ästhetische Produkte – oder, wenn wir sie selbst
herstellen, unsere Produktionen – etwas kategorial anderes. Sie liegen auf
der Grenze zwischen dem begrifflich Geformten und dem
„Bildungstrieb“
(Blumenbach).
Damit ist nun, nimmt man das ernst, ästhetische Bildung ein ziemlich
risikoreiches Unternehmen. Man riskiert nämlich, daß die in der
Leibhaftigkeit des Subjektes sich meldende Deutungsbedürftigkeit, die
begrifflich nicht präformierte Bestrebung, zu einem
„adäquaten“
Begriff allererst zu finden, in Differenz gerät zu dem, was
begrifflich vermessen und in Schulen institutionalisiert ist.
[102:24] Eben dies war für Schiller, in den
„Briefen über die ästhetische
Erziehung“
, das Aufkeimen einer Idee von Freiheit. Preußische Könige und gelegentlich auch unsere Kultusminister (wenngleich der Minister von Baden-Württemberg auch schon mal
Schiller als
Schullektüre empfiehlt) können sich naturgemäß solche Meinung
nicht zu eigen machen. Sie widerstreitet zutiefst – die
Schulreformer des 16. und 17. Jahrhunderts konnten das kaum
ahnen – dem Zweck moderner Schulen. Schiller wußte das, und er hat es
polemisch genug formuliert. Mit gesellschaftlicher
Brauchbarkeit, mit dem Einfädeln der jungen Generation in den
gerade erreichten Stand praktischer Vernunft und
theoretischer Muster der Erklärung/Beschreibung der
sogenannten Außenwelt in Begriffen des Verstandes hatte sein
Projekt nur wenig, und wenn überhaupt, dann nur vermittelt zu
tun.
Im 21. Brief
„über die ästhetische Erziehung“
heißt
es: Alles Ästhetische sei
„in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung … völlig indifferent und unfruchtbar.“
„Der Begriff einer lehrenden
(didaktischen) oder bessernden (moralischen)
Kunst“
sei, schreibt Schiller im nächsten Brief, ein Widerspruch, denn
„nichts streitet mehr mit dem Begriff
der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben“
.
[102:25] Das heißt nichts anderes als: Kunstgegenstände und die Tätigkeiten
ihrer Hervorbringung verfolgen weder einen moralischen Zweck noch sind sie
Mittel der Erkenntnis dessen, was außer uns ist. Sie machen, wie Kant es sagte, die
problematische, prekäre Beziehung zwischen unserer leibhaft fundierten
„Einbildungskraft“
und dem
immer schon begrifflich strukturierten Weltverhältnis zum Thema. Eben
deshalb stiften die Künste, stiften ästhetische Tätigkeiten
„Freiheit“
; sie bringen
„mich selbst“
zum Bewußtsein.
[102:26] Allein: Wir müssen an dieser Stelle des Gedankenganges nicht den
anspruchsvollen Begriff der Freiheit bemühen. Es genügt – denke ich –, wenn es gelänge, |a 18|die Behauptung zu erläutern,
ästhetische Tätigkeiten und Objekte bringen
„mich selbst“
zum Bewußtsein, und zwar darin, daß sie
„viel zu denken“
veranlassen, ohne einem Verstandesbegriff
adäquat zu sein. Mir scheint, daß dieser Gedanke für den, der an
zuverlässiger, d. h. kontrollierbarer Curriculum-Konstruktion, an
Lernziel-Taxonomien interessiert ist, schwierig ist, dysfunktional
erscheint, dem gesellschaftlichen Zweck der Schule zuwiderlaufend,
wenigstens aber irritierend. Um so wichtiger ist, zu prüfen, ob es denn
überhaupt ein sinnvoller Gedanke ist.
[102:27] Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß alles Lernen, nicht nur
das schulische, immer schon mit begrifflich geformtem Material operiert oder
– wie Strukturalisten sagen – daß die Welt, in der wir aufwachsen, lernen
und leben, ein Ensemble von Codes ist, wir also schon in der Tiefenstruktur
unserer Existenz, und zwar von den allerersten Lernschritten an, eine
kulturelle Form reproduzieren, jenseits derer nichts ist, was noch sinnvoll sagbar wäre. Demgegenüber läßt sich nun allerdings
wenigstens eine Frage geltend machen: Ist es nicht so, daß unser
Leib mit seiner Organausstattung auf dieses Ensemble von Codes, auf die
kognitiv strukturierte
„Welt“
re-agiert, also
nicht nur auf die Bedeutung der Zeichen, sondern auch auf das, was, als
Wahrnehmungsreiz, Träger von Bedeutung und Element von Struktur ist? Das
Pissoir, innerhhalb des kulturellen Codes seiner praktischen Verwendung begrifflich gut
lokalisiert, steht als
„objet trouvé“
Duchamps im Museum in einer
anderen Ordnung; seine kulturell-praktische Bedeutung wird hier nur noch
zitiert; der neue Kontext, das neue Referenzsystem ist die
phänomenale Ordnung des empfundenen Leibes, und zwar als Kontrast zur theoretischen und praktischen
„Ordnung der
Dinge“
. In jeder Kinderzeichnung, in vielen Graffitis, in manchen Punk-Inszenierungen geschieht Analoges.
[102:28] Wenn es heißt, daß ästhetische Tätigkeiten und Objekte
„mimetisch“
seien, also daß sie etwas nachahmen oder gar
abbilden, ist zu fragen, was damit sinnvoll gemeint sein kann. Derartige Theoreme unterstellen eine Ähnlichkeitsbeziehung: ist nun das Pissoir in der Bedürfnisanstalt dem Pissoir im Museum
ähnlich oder umgekehrt? Was wird in einem Wiesenstück Monets, in Picassos
„Guernica“
,
in einem Bilde Mondrians
„nachgeahmt“
? Worauf bezieht sich das Mimetische, wenn
wir schon so reden wollen, einer pantomimischen Körperbewegung, eines
Tanzschrittes oder gar einer Tonfolge? Mir scheint, daß jeder Versuch, die
ästhetische Mimesis auf äußere Wirklichkeit zu beziehen – etwa so,
daß im ästhetischen Objekt ein
„Schein“
des Wirklichen
hervorgebracht werde – in unlösbare logische Probleme hineinführt. Mit
Versuchen, das ästhetische Objekt als Mimesis von Ideen oder als Mimesis
guter Praxis, rechten Lebens zu begreifen, verringern sich die
Schwierigkeiten nicht (wenngleich Künstler gelegentlich derartige
Bezugnahmen für sich und ihre Arbeit in Anspruch nehmen).
[102:29] Was also könnte – wenn wir an dieser alten Vorstellung,
ästhetische Produktion habe es mit
„Mimesis“
zu tun,
festhalten wollen – Mimesis, Nachahmung für das ästhetische Panorama der
Gegenwart bedeuten? Aristoteles erläuterte Mimesis durch
„Offensichtlichmachen“
; was also wird
„offensichtlich“
in der Auseinandersetzung mit unseren ästhetischen
Bemühungen? Ich kann – im Rahmen eines knapp bemessenen Vortrags – dazu nur
versuchsweise einen heuristischen Vorschlag machen:
„offensichtlich“
wird, so hätte wohl Kant gesagt, eine starke subjektive
Empfindung. Das Mimetische des ästhetischen Ereignisses läge dann darin, daß eine mögliche Empfindung
dieser Art
„nachgeahmt“
wird. Eine mögliche
Empfindung ist an den Leib und seine Organe gebunden; aber sie bringt etwas ins
Spiel, das so nicht schon da war, eine Vorwegnahme, eine Antizipation, eine
Modifikation oder Variation des schon Bekannten, Vertrauten, Gewohnten –
eine Konfrontation also der begrifflich vermessenen Welterfahrung mit dem,
was nur vorbegrifflich
„empfunden“
werden kann.
Gegenstand der Mimesis wäre dann also eben diese Differenz: die Bruchstelle
zwischen Lesbarkeit und Empfindbarkeit, Verstand und Sinnlichkeit.
3. Die Verschiedenheit der Sinne
[102:35] Dieses vorbegriffliche Selbst, das das Ich im Auge hat (
„Reflexion ist das Auge, das sich selber sieht“
, Fichte), wenn es
„sich“
meint, wird seiner selbst nicht unvermittelt
ansichtig, sondern nur das Medium der Sinne, und die sind verschieden. Das
Wort
„Kunst“
, so wie es unsere Kultur semantisch
eingespielt hat, läßt uns vornehmlich an die sogenannte bildende
Kunst denken. In Hinsicht auf Probleme der ästhetischen Bildung muß
es aber geradezu als abartig erscheinen, daß wir von
„Kunsterziehung“
nur im Hinblick auf diese sprechen. Es
gibt, wie jeder weiß, viele Künste; und diese sind an die Vielheit der Sinne
bzw. deren Medien oder vorzügliche Objekte/Sinnesreize gebunden.
[102:36]
„Gebunden“
: das heißt, daß sie Regeln folgen,
die einerseits in dem Organ, das sie ermöglicht, andererseits in einer Form,
die sie kulturell variiert, fundiert sind. Die Tätigkeit unserer Sinne ist
nicht geschichtslos. Sie folgt der Geschichte des jeweiligen Mediums,
obgleich sie sich im Material dessen bewegt, was unserer Organausstattung
zugänglich ist. Eine Theorie der ästhetischen Bildung müßte deshalb
differenziell verfahren. Einige der dabei auftauchenden Probleme will ich
abschließend kurz skizzieren, und zwar mit Bezug auf Bild, Ton und
Bewegung.
[102:37] Nehme ich die bisher vorgebrachten Argumente zusammen, dann läßt
sich sagen, daß an ästhetischen Ereignissen mindestens drei Komponenten
beteiligt sind: die Physiologie des jeweiligen
Sinnes, das ästhetische
„Material“
und die zwischen
Verstand und Sinnlichkeit operierende Reflexion. Der Verschiedenheit der
Sinne und des Materials wegen liegt die Hypothese nahe, daß, in Abhängigkeit
von jenen, je andere Aspekte von Selbstempfindung aktiviert werden, ein je
besonderer Bildungssinn ins Spiel tritt.
-
–
[102:38] Der Gesichtssinn geht am entschiedensten in die
Ferne und schafft Distanz. Das zeigt sich beispielsweise schon im
Malvorgang selbst: ich kann innehalten und auf das eben Begonnene
zurückblicken. Obwohl elementar in Farb- und
Formwahrnehmungsmöglichkeiten fundiert, ist das Auge den historisch
bestimmten visuellen Beständen unserer Kultur konfrontiert und schafft
die ästhetisch-bildnerische Tätigkeit ihr Reflexionsmaterial aus diesen,
akzentuiert also am ehesten oder am plausibelsten die Entgegensetzung
von herrschenden Codes der optisch zugänglichen Umwelt und
vorbegrifflich leibhaften Ich-Empfindungen.
-
–
[102:39] Das Ohr ist im Unterschied dazu viel stärker
propriozeptiv, selbstwahrnehmend organisiert und zudem unausweichlich an
fließende Zeit gebunden. Scheint die Frage, ob Bilder etwas Äußeres
abbilden, wenigstens noch selbstverständlich, ist im Hinblick auf Musik
sofort einleuchtend, daß sie ins Leere geht. Ihr Material ist
von vornherein als kulturell-historisches Artefakt
erkennbar – im Falle der europäisch neuzeitlichen Musik beispielsweise
seine Abhängigkeit von der Erfindung der Notenschrift und den damit
gesetzten Parametern. Einerseits geht der Ton, wie es in alten Texten
immer wieder heißt, rascher zu Herzen, trifft also das empfindliche
Subjekt eher als optische Eindrücke; andererseits aber scheint das Ohr
„konservativer“
zu sein als das Auge; viele,
denen die moderne Malerei schon längst kein irritierend Fremdes mehr
ist, haben immer noch große Schwierigkeiten, ästhetisches Wohlgefallen
beim Hören von Zwölftonmusik, also aus den zwanziger Jahren, zu
empfinden.
-
–
[102:40] Wiederum anders stellen sich die Probleme im Falle der
Bewegung. Sie liegt am dichtesten an der eigenen
Leibwahrnehmung. Wenn wir uns bewegen, geben wir ziemlich viel von uns
selbst den anderen preis. Andererseits aber ist die Auseinandersetzung
mit der Schwerkraft und mit der Tatsache, daß wir unseren Leib als
„Instrument“
benutzen können, nun wirklich kein
Problem dieses oder jenes Individuums, sondern ein Problem menschlicher
Subjektivität, ein Gattungsproblem. Im Tanz erneuert sich immer wieder
die elementare Erfahrung des Kindes in dem Augenblick, in dem es ihm
gelingt, sich aufzurichten, zu gehen und den drohenden Fall balancierend
abzuwenden. Die Veränderung von Tanzstilen in der Geschichte –
beispielsweise von der Pavane zur Volte, vom Menuett zum Walzer, vom
Foxtrott zum Rock, vom Gruppentanz zum individuellen Ausdruckstanz usw.
– ist deshalb, wie ich vermute, ein hervorragender Seismograph für die
Veränderung von Lebensgrundstimmungen, für das Verhältnis des
Individuums zur Gemeinschaft, für den Stand der kulturellen Reflexion
über Besonderes und Allgemeines.
[102:41] Das sind nur Andeutungen. Ich konnte hier nur die Aufgabe
skizzieren, nicht aber die damit verbundenen Fragen beantworten. Sollten wir
immer noch Schillers Idee
einer
„ästhetischen Erziehung des
Menschen“
für diskutabel und praktisch relevant halten, dann wäre mindestens viererlei zu tun:
-
–
[102:42] eine bildungstheoretische Begründung des je besonderen
Bildungssinnes unserer ästhetischen Organe;
-
–
[102:43] eine Erläuterung der Bedeutung ästhetischer Ereignisse für
unsere Empfindung und die reflektierende Tätigkeit des Ich;
-
–
[102:44] eine genauere Bestimmung der Bildungswirkung ästhetischer
Ereignisse mit Bezug auf deren Rezeption einerseits und der
eigenen ästhetischen Tätigkeit andererseits;
-
–
[102:45] eine Klärung der Frage, welchen Ort denn eine derart
verstandene ästhetische Bildung im Kontext schulischer Curricula
hat.
[102:46] Mindestens die letzte Frage ist, so scheint es, längst
entschieden. Die Kunstfächer sind etabliert. Aber um welchen Preis? Sie
haben sich, wenn ich derart zugespitzt reden darf, den
Normalitätserwartungen der Lehrpläne gefügt; sie haben sich eingefädelt und
eingerichtet in der begrifflich-curricular vermessenen Welt; sie
rechtfertigen sich mit Hinsicht auf Nützlichkeit, und sei es nur die
demokratische Nützlichkeit intellektueller Kritik, jedenfalls theoretisch
und praktisch. Das schlechterdings Nutzenlose der ästhetischen Erfahrung,
gelegentlich als elitär verunglimpft, das einerseits entschieden
Intim-Private, andererseits Allgemein-Subjektive im ästhetischen Akt, das
vorbegrifflich Nicht-|a 20|Meßbare der korrespondierenden Erlebnisse, die dabei sich einstellenden
Gewißheiten gerade in Opposition zu den gesellschaftlich-praktisch
eingespielten Codes, die Plötzlichkeit und der Choc in den starken
ästhetischen Empfindungen – all dies bleibt auf der Strecke, und zwar
notwendigerweise.
[102:47] Es widerstreitet zutiefst, jedenfalls innerhalb der ästhetischen
Szenarios der Moderne, allem, was wir mit Schulen vernünftigerweise
beabsichtigen. Freilich gibt es gelegentlich Durch- oder Ausbrüche. Immer
wieder gelingt es Lehrern, den ästhetischen Schein (videt? lucet?) elementarer
Subjekt-Erfahrung aufleuchten zu lassen. Aber das sind, systemnotwendig,
Ausnahmen. Kunst und Schule, denke ich, sind sich so fremd wie je zuvor.
Psychologisierende Deutungen, um eine Versöhnung bemüht dadurch, daß sie
ästhetische Objekte als Psychosymbolik, als charakterologischen oder
entwicklungsgerechten Ausdruck interpretieren und daraus gelegentlich gar
curriculare Entwicklungsreihen normativ konstruieren, führen von der Brisanz
ästhethischer Ereignisse eher weg.
[102:48] Aber all dies, sollte es zutreffen, muß uns nicht entmutigen. Im
Gegenteil: Im ersten Abschnitt versuchte ich zu erläutern, was ästhetische
Alphabetisierung heißen könnte: das Bilden der Fähigkeit, ästhetische
Zeichen überhaupt erst lesen, und, in der eigenen Tätigkeit, setzen zu
können. Das ist eine Propädeutik ästhetischer Erfahrung. Nirgends, soweit ich weiß, wurde das besser und überzeugender
praktiziert als im Bauhaus. Ich habe Sie in diesem Vortrag
kaum mit längeren Zitaten behelligt. Nun aber, zum Schluß, möchte ich Ihnen
eines zumuten, das, obwohl am Ende stehend, wieder an den Anfang führt, an
den propädeutischen Beginn ästhetischer Bildung.
[102:49] In seiner ersten Vorlesung am Bauhaus 1921
begann Paul Klee
so: Nach einem Hinweis auf die Bedeutung des Wortes
„Analyse“
für den Chemiker:
„In unserem Betrieb sind die … Beweggründe zur
Analyse natürlich andere. Wir machen keine Analysen von Werken, die
wir kopieren möchten oder denen wir mißtrauen … Wir untersuchen
die Wege … um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen … Wir sind Bildner und werden uns hier
daher naturgemäß auf formalem Gebiet bewegen. Ohne darüber zu
vergessen, daß vor dem formalen Anfang oder einfacher vor dem ersten
Strich eine ganze Vorgeschichte liegt, nicht nur etwa die Sehnsucht,
die Lust des Menschen, sich auszudrücken, nicht nur die äußere
Notwendigkeit dazu, sondern ein allgemeiner Zustand der Menschheit … Aber noch mehr muß ich hier betonen … daß uns das tiefste Gemüt, die
schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazugehörigen Formen nicht
bei der Hand haben. – Hier heißt es auf den vereinzelten
Zufallstreffer verzichten, der dem Dilettanten einmalige Ehre macht
… [102:50] Nach diesen allgemeinen
Voraussetzungen beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.“