Zusammenfassung
Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit
1. Ästhetische Wirkung
2. Etwas über ästhetische Didaktik und Therapie
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a)[112:12] Ästhetische Ereignisse – also die Rezeption ästhetischer Objekte wie auch ihre Hervorbringung – konnten mühelos als Momente von Lebensformen, der überlieferten wie der aktuellen gesellschaftlich-kulturellen Umwelt begriffen werden, sei es in eher affirmativer, sei es in eher kritischer Einstellung. In beiden Fällen geht es um eine für die neuzeitliche Pädagogik fundamentale Problemstellung: Alphabetisierung. Das kann nun freilich für die Sphäre des Ästhetischen nur eine Metapher sein, da es sich ja nicht um Buchstaben, Wörter und Sätze handelt, sondern um eine Art„Sprachfertigkeit“im Hinblick auf Zeichen anderer Art. Über alle Verschiedenartigkeit politischer oder gesellschaftskritischer Optionen hinweg steht hier die didaktische Idee der Ikonographie (z. B. ) Pate, der, auf der Seite der Musikästhetik, die Auffassung entspricht, Tonfolgen oder -arrangements seien der„Ausdruck“von etwas anderem. Die zu lernende Fertigkeit ist dann, wie es eine Zeitlang immer wieder hieß, das„Codieren“und„Decodieren“von Informationen, die im Medium der ästhetischen Ereignisse transportiert werden. Die bisweilen schwierige Frage scheint nur noch zu sein, wie breit die Kontexte ausgespannt sein müssen, um die ästhetischen Zeichen recht verstehen zu können. Dem Projekt der ästhetischen Alphabetisierung – um noch einmal diese Metapher zu bemühen – sind beide verpflichtet: der, der den bürgerlichen Kunstgenuß durch die Aufmerksamkeit auf den besonderen Zeichen-Charakter ästhetischer Zeichen erhöhen will, der Apologet meinethalben des affirmativ-bürgerlichen Kunstkonsums – und der, der seine Aufmerksamkeit der Bedeutung zuwendet, die den Zeichen im Kontext ihrer weiträumigeren Funktionen zukommt, der Propagandist einer„kritischen“Einstellung also. Daß„Aufklärung über Manipulation (durch ästhetische Zeichen) wichtiger sei als Erziehung zu Kunstverständnis“(Kerbs in Otto 1975, S. 14)„Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern“(Otto/Otto 1987) ein Curriculum wert sei.
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b)[112:13] Curriculum: Da geht es nun um den Gang oder den Lauf der Bildung durch die Zeit. Lesenlernen geschieht nicht auf einen Schlag. Es bedarf einer Abstufung in chronologischen Schritten, ohne die Richtung zu verlieren. Nach dieser Maxime ist unser Bildungssystem und ist auch schon die Familienerziehung strukturiert. Wenn also die Welt der ästhetischen Zeichen dem Auslegen zugänglich gemacht werden soll, dann kann das offenbar nur in zeitlich diskreten Bildungsschritten geschehen. Hier steht als Pate. Bild ist gewiß ein didaktisch geeignetes ästhetisches Objekt; sowohl die als„affirmativ“etikettierten Ausleger als auch die anderen würden dem, wie |a 486|ich vermute, zustimmen; der Auslegungsstreit um dieses Bild (vgl. z. B. Werckmeister 1989, Imdahl 1985), die Beurteilung von Kontextfragen also, legt allerdings eine Fülle von Lernschritten nahe, die nur sukzessive, über Monate und Jahre hinweg zu realisieren sind. Analoges gilt für die eigene ästhetische Produktion: wer derartigen Bildungszielen zu folgen versucht, der muß Rechenschaft geben über die notwendigen Schritte, die dahin führen. Die ermittelten Stadien der bildnerischen Entwicklung des Kindes – für die musikalische Entwicklung fehlen noch ähnlich überzeugende Untersuchungen – und unsere Kenntnisse über das Fortschreiten der kognitiven Kompetenzen lassen vermuten, daß man mit 16jährigen sinnvoll über reden oder„Brandenburger Tor“-Projekte durchführen kann, nicht aber schon mit 5jährigen. Andererseits aber versichern Elementar-Didaktiker, daß schon im Grundschulalter alle Dimensionen ästhetischer Sensibilität versammelt seien, der weitere Fortgang ästhetischer Bildung oder Erziehung eher eine Verengung, weniger aber eine Erweiterung ästhetischer Erfahrung sei. Wie auch immer dieser (unausgesprochene) Streit entschieden werden mag: beide, ob mit oder ohne , unterstellen Entwicklung, Bildung als Prozeß, dessen Stufen logisch rekonstruierbar und chronologisch planbar sind. Als Argumentationshilfe können sie sich – wie oft geschehen – auf beziehen, dessen Erörterungen man immerhin entnehmen könnte, daß er eine Fortschrittsabfolge von ästhetischem Zustand, rationalem Handeln und ästhetisch-kritischem Bewußtsein im Sinn hatte und von dessen ästhetischer Theorie man meinen könnte, sie ziele„eine Revolutionierung der Verständigungsverhältnisse“(Habermas 1985, S. 63), kommunikative Vernunft also. Damit sind Ontogenese und Phylogenese, die Entwicklung des einzelnen und die Evolution der Gesellschaft, parallel gesetzt, die Pädagogen sind im Bilde, das Curriculum ist legitimiert.
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c)[112:14] Eine weitere Anschlußstelle zwischen ästhetischen Ereignissen und didaktisch interessierter Pädagogik findet sich in dem inflationär gewordenen Ausdruck„Identität“. Wenn nämlich angenommen werden darf, daß die Inszenierung kommunikativer Vernunft, als Fluchtpunkt gleichsam der pädagogischen Bemühung, auf Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung angewiesen ist, dann sind, in diesem Prozeß, die expressiven Akte und also auch die ästhetischen, besonders ausgezeichnet. Eben dies, wenngleich in anderer Terminologie, ist ein sehr altes Thema der ästhetischen Erziehung. Wenn es stimmt, daß der Mensch – ich meine den der Moderne – seine Identität finden müsse, im Singular, und möglichst ehe er die von Pädagogen betreuten Felder verläßt; und wenn es außerdem stimmt, daß dafür die Fähigkeiten zu expressiven Äußerungen in den verschiedenen ästhetischen Medien ebenso erforderlich sind wie die Verstehens- und Auslegungskompetenzen im Hinblick auf die ästhetischen Ereignisse der kulturellen Umwelt – wenn derartige Annahmen zutreffen, dann ist es vermutlich richtig, ästhetische Bildung aus der marginalen didaktischen Position herauszuholen und sie mehr ins Zentrum zu rücken.