2.1. Selbstdeutungen
[V45:358] Analog zu der Interpretation des Interviews mit Susi haben
wir nach den Versionen gefragt, die A über sich selbst mitteilt.
Wir haben aus ihren Selbstdeutungen zwei übergreifende Versionen
ermittelt.
[V45:359] Version A: Ich bin
anders als die anderen Familienmitglieder
[V45:360] Version B: Ich
versuche mein eigenes Leben zu leben
[V45:361] Zu Version A:
[V45:362] Eine zentrale sprachliche Form, die A zur
Charakterisierung dieses Unterschieds wählt, ist das Mittel der
Kontrastierung, das in den beiden folgenden Versionen enthalten
ist.
[V45:363] A 1: Ich bin jemand, der
intelligenter ist als alle übrigen
Familienmitglieder
[V45:364] A ist intelligenter als ihre Geschwister, beide haben
Schwierigkeiten in der Schule. Sie hat nie solche
Schwierigkeiten gehabt.
[V45:365]
“… aber bei
mir ging alles, die ganze Schulzeit glänzend, und meine
Eltern haben sich ja nie um irgendwas gekümmert in der
Schule …”
(S. 23)
[V45:366] Durch die bewerteten Schulleistungen wird die
Behauptung des Intelligenzunterschiedes objektiviert. Weitere
Belege sind die höhere Schulbildung, die ihre |A 54|Eltern nicht aufweisen können und die Zitierung des
Vaters und anderer Personen, die ihre höhere Intelligenz
bescheinigen.
[V45:367]
“und so ist es
z. B., daß er ja von sich sagt, daß er, er hat ja Hauptschule
nur gemacht, daß er also nicht mehr leisten könnte, ne, und
dann, daß er auf mich so stolz ist, aber auch gleichzeitig
so sagt, daß es ja nicht von ihm ist und daß ich irgendwie,
daß ich mehr bin …”
(S. 23).
[V45:368] A 2: Ich bin jemand, der andere
Interessen hat als seine Eltern
[V45:369] A stellt sich in dieser Version als jemand dar, der
die familientypischen Normen und Werte nicht teilt. Sie ist auch
hier – nimmt man die bürgerliche Wertorientierung zum Maßstab –
den übrigen Familienmitgliedern überlegen. Sie hat Interessen,
die im Vergleich zu ihren Mitschülern wahrscheinlich typisch
sind. So würde sie gern reiten oder Gitarre spielen lernen, ins
Theater und ins Kino gehen (vgl. S. 8 und 9). Diese Interessen
übersteigen allerdings die finanziellen Möglichkeiten ihrer
Familie (vgl. auch S. 15) und sind sicher zum Teil für die
übrigen Familienmitglieder (zumindest Vater und Mutter) eher
untypisch.
[V45:370] Eine weitere Unterscheidung zwischen ihren Interessen
und denen der Eltern liegt im kulturellen Bereich. Für A’s
Interesse an Kultur spricht außer den eben schon erwähnten
gewünschten Kino- und Theaterbesuchen ihre Lektüre. Sie liest
z. B. Marcel
Pagnol und Jean Anouilh und betont dabei die relative
Einzigartigkeit dieses spezifischen Interessen an Pagnol in ihrem
Bekanntenkreis:
[V45:371]
“… und ach,
den mag ich eigentlich unwahrscheinlich gern, und alle, die
ich kenne, mögen ihn nicht”
(S. 16).
[V45:372] Ein weiterer Beleg für die Verschiedenartigkeit der
Interessen läßt sich in der Abgrenzung von den Bekannten der
Eltern sehen:
[V45:373]
“Und Besuch, der
Besuch, den wir kriegen, mag ich eigentlich größtenteils
nicht so sonderlich … ”
(S. 7)
[V45:374] In den folgenden beiden Versionen erfahren wir etwas
über den Grund des Andersseins.
|A 55|
[V45:375] A 3: Ich bin jemand, der seinem
leiblichen Vater sehr ähnlich ist
[V45:376] Wir erfahren aus dem Interview, daß A’s leiblicher
Vater nicht der jetzige Mann ihrer Mutter ist. Mit diesem Vater
– ein Inder, den A nie gesehen hat – verbindet sie ursächlich
ihr
“Anderssein”
. Sie belegt die Version über
die bestehende Ähnlichkeit, indem sie Zeugen anführt:
[V45:377]
“Ja, … ich
merk das auch oft, ne, besonders wenn ich nur mit meiner
Mutter zusammen bin, wie dann die Leute so richtig das nicht
abnehmen, daß ich die Tochter bin”
(S. 19).
[V45:378]
“Ach, ich red ja
genauso monoton wie mein Vater”
(S. 24).
[V45:379]
“Als kleines
Kind, da mußte ich immer sagen, … da haben die Leute immer
gefragt, warum ich denn so schwarze Augen hätte, weil sie
das so seltdam fanden”
(S. 37).
[V45:380] Diese Zitate beziehen sich auf die äußeren Merkmale
der Ähnlichkeit. Darüberhinaus können alle Belege für die
Version A als indirekter Hinweis auf die Ähnlichkeit von
Einstellungen, Interessen und Verhaltensweisen A’s mit ihrem
leiblichen Vater verstanden werden bzw. mit ihrem Bild von ihm,
das sich aus Erzählungen der Mutter und ihren eigenen
Idealvorstellungen zusammensetzt. Allerdings erwachsen A aus
dieser unterstellten und angestrebten Ähnlichkeit zum leiblichen
Vater auch Probleme; diese werden in der Version
[V45:381] A 4: Ich bin jemand, der etikettiert
wird
[V45:382] dargestellt. Durch diese Version belegt sie erneut
ihre Andersartigkeit, denn sie wird ständig darauf hingewiesen,
ja, sie wird ihr sogar manchmal angelastet und mit Vorwürfen
verbunden:
[V45:383]
“Da haben mir
meine Eltern immer vorgeworfen, ich wäre arrogant und ich
würde mich absondern, wollte mit ihnen nichts zu tun haben,
und ich würde … irgendwie so’n bißchen hochnäsig sein und
so”
(S. 11; vgl. auch S. 22)
[V45:384]
“Zu mir sagen
auch alle, daß ich eigentlich so ziemlich verschlossen bin
und nicht so, so offen rede”
(S. 30).
[V45:385] A hat nicht die Möglichkeit, sich für oder gegen die
Andersartigkeit zu entscheiden, sie wird ihr schon so lange
zugeschrieben, daß sie als
“Kernstück”
ihrer
Persönlichkeit in A’s Selbstbild integriert ist.
[V45:386] Die nächste Version unterstützt noch einmal durch
einen komplexen Argumen|A 56|tationszusammenhang die behauptete Andersartigkeit.
[V45:387] A 5: Ich bin jemand, der sich
diskursiv auseinandersetzen möchte
[V45:388]
“Und ich hab
auch keine Lust irgendwie, dann meine Meinung so beinahe mit
Gewalt durchzusetzen”
(S. 4).
[V45:389]
“Ja, würde ich
schon (mit dem Vater reden), bloß einfach, wenn das dann,
ich weiß genau, daß es dann irgendwie, daß man dann so fast
zerstritten ist, und dann, dann will ich’s lieber nicht”
(S. 6).
[V45:390]
“… dann reden
wir nicht irgendwie mal in Ruhe darüber, sondern der eine,
einer hebt sich das so auf, und in irgend ’nem Streit, dann entläd sich das alles, … wirklich schlimm”
(S. 11).
[V45:391] Die diskursive Auseinandersetzung bleibt jedoch,
zumindest soweit es die Familie betrifft, ein Wunsch, da
verschiedene in ihr selbst und außerhalb liegende Bedingungen
die Realisierung nicht zulassen.
[V45:392] a) Die äußere Bedingung ist das Verhalten des Vaters, der sich Diskussionen entzieht
oder sie unterläuft
[V45:393]
“
Wenn ich eine
andere Meinung habe, … , dann sagt er
‘Das
ist Quatsch, was ihr sagt’
”
(S. 4).
[V45:394]
“Er hat seine
Meinung, seine festen Standpunkte, und die ändert er,
verändert er sowieso nicht”
(S. 4).
[V45:395]
“
Weil er merkt,
daß er die schlechteren Argumente hat, dann sagt er
‘Ja, gut’
, aber dann am nächsten Tag ist
er wieder ganz bei seiner alten Meinung”
(S. 4/5)
[V45:396]
“Wenn er dann
merkt, daß der andere auch ’n bißchen Recht haben könnte,
dann hört er lieber auf zu diskutieren”
(S. 5).
[V45:397] A glaubt, sich auf intellektueller Ebene, also in
Diskussionen, durchaus mit dem Vater messen zu können, aber er
läßt sich nicht darauf ein. Und sie hat keine Lust, ihre Meinung
“so beinahe mit Gewalt durchzusetzen”
,
wie er das tut. Die Folge davon ist, daß sie sich
Auseinandersetzungen mit dem Vater entzieht.
[V45:398] b) Die in ihr liegende Bedingung, die den Diskurs
verhindert, ist ihre eigene
Unzulänglichkeit. Es gelingt ihr nicht immer, nach diesem
Prinzip zu handeln.
[V45:399]
“Ich find das so
sinnlos und werd dann vielleicht auch gleich ’n bißchen zu
böse”
(S. 5)
[V45:400]
“… daß im
Streit, da kriegt man das so vorgeworfen; wir sind genauso,
machen das mit unseren Eltern auch so, ne?”
(S. 11)
|A 57|
[V45:401]
“Ich mein, ich
sag ja sicher auch im Streit was Ungerechtes und so”
(S. 42).
[V45:402] c) Eine weitere Unterstützung für die Behauptung, daß
der Diskurs in der Familie nicht zustande kommen kann, ist
folgende Äußerung:
[V45:403]
“Aber ich glaube
auch, daß wir nicht genug Vertrauen zueinander haben”
(S. 10).
[V45:404] Vertrauen ist die Grundlage für die von ihr
angestrebte diskursive Auseinandersetzung und auch für Gespräche
über Dinge, die
“‘n bißchen tiefer”
(S. 10)
gehen. Reden über solche Dinge bedeutet für A Intimität und
Verbindlichkeit. Wie wichtig
“Reden”
für sie
ist, belegt außer den schon zitierten Textstellen auch diese
Äußerung:
[V45:405]
“Ich geh’
eigentlich nicht so oft ins Pegasus (Kneipe in Göttingen)
oder so, geh ich nicht allzu oft, weil, ich find es da auch
nur gut, wenn man mit irgendwelchen Leuten hingeht, mit
denen man dann so reden kann oder so”
(S. 8).
[V45:406] Für die Betonung des Interesses an diskurisven Auseinandersetzungen spricht auch die Darstellung
ihrer Überlegungen zu Toleranz. A tritt für Toleranz ein und
zeigt in folgenden Beispielen, wie sie sich dabei von der
Intoleranz der Eltern absetzt.
-
Beispiel 1:
[V45:407]
“
Z. B. wie jetzt, als Leute,
besonders Studenten so gegen die Fahrpreiserhöhung in
den Bussen demonstriert haben, dann sagt er gleich
‘Das sind alles Kommunisten’
oder
so, und ich mein, das ist wirklich schwierig”
(S. 5/6)
-
Beispiel 2:
[V45:408]
“
… meine Mutter sieht das
wohl anders,
‘Die Leute hier oben (im
Wohnviertel), ach die sind blöd, dumm und
asozial’
”
(S. 31)
“Hm, aber sich seh das jetzt irgendwie so, ich finde viele
Leute ganz nett hier oben und rede auch so mit jedem und
so …”
(S. 31)
-
Beispiel 3:
[V45:409]
Die Meinung von A’s Eltern über die
Patienten im LKH:
“Die sind ja alle bescheuert da”
(S. 35)
A geht aber dort hin und beschäftigt sich mit ihnen und
beschreibt eine Patientin:
“Die war 16 und drogensüchtig, ist da
überhaupt nicht … hat da nicht hingepaßt und so
zwischen Epileptikern und Schizophrenen, die war
wirklich ganz nett, und da merkt man auch so, daß
man sehr viel gemeinsam hat”
(S. 35/36).
[V45:410] Belege für den behaupteten Zusammenhang von
argumentativem Diskurs und Toleranz finden sich in ihren
Äußerungen über Religion (vgl. S. 40/41) und in der Beurteilung
des elterlichen Gebots, ihre Herkunft zu verheimlichen:
|A 58|
[V45:411]
“
Ich würde das
nicht so schlimm finden, wenn ich sagen würde
‘Ja, mein leiblicher Vater ist Inder und,
aber, wir sind nun so – ’ne Familie und so, und das
klappt ganz gut’
, aber irgendwie wenn man das immer
so verschweigen muß, … ich finde das nicht gut”
(S. 19)
[V45:412] Für Diskurse wie für Vorurteilsfreiheit ist
grundlegend, daß man nicht starr auf seiner Meinung beharrt,
sondern zur Anerkennung von Auffassungen und Verhaltensweisen
anderer wie zur Reflexion der eigenen bereit ist.
[V45:413] zu Version B: Ich versuche
mein eigenes Leben zu leben
[V45:414] Diese Version bezieht sich vor allem auf die
alltäglichen Konflikte eines Jugendlichen mit Verboten und
Anordnungen seitens der Eltern. A fühlt sich durch solche
Verbote und Anordnungen sehr abhängig:
[V45:415]
“… ich fühl’
mich unwahrscheinlich abhängig von zuhause, also so von
meinen Eltern so, daß ich mich eingeschränkt fühle in
irgendwelchen Möglichkeiten, obwohl, das vielleicht gar
nicht so ist, ne, sondern ich das nur so empfinde”
(S. 15).
[V45:416] und versucht sich dadurch nicht einschränken zu
lassen. Sie glaubt, inzwischen ihren Willen meist durchsetzen zu
können, wenn sie Konflikte vermeiden will oder Sanktionen
befürchten muß, verheimlicht sie vor den Eltern ihre
Entscheidungen oder Absichten.
[V45:417] B 1: Ich bin jemand, der seine
Entscheidungen selbständig trifft
[V45:418] In dieser Version ist enthalten, worauf sich die von
A gemeinten Entscheidungen beziehen: auf typische Konflikte, die
weibliche Jugendliche dieses Alters mit ihren Eltern haben
können – Ausgehen, Freundschaften mit Jungen, Pille. Sie zeigt
uns, daß sie in allen drei Bereichen ein von den Eltern
unabhängiges Urteilsvermögen besitzt:
[V45:419]
“Obwohl ich
eigentlich so ziemlich, in solchen Sachen (gemeint sind
Freundschaften) nicht so abhängig bin von meinen Eltern, daß
ich mich da wohl behaupten könnte”
(S. 7/8)
[V45:420] A:
“… aber ich
würde unbedingt, wahrscheinlich auch die Pille nehmen, wenn
ich einen Freund hatte, mit dem ich
schlafen würde
I: Das würdest du auch nicht großartig
besprechen, da kämst du selbst ran, oder?
A: Ja, das
glaube ich schon. Meine Mutter ist ganz gegen die
Pille…”
(S. 8)
[V45:421]
“Aber wenn ich
alleine komme, darf es noch nicht dunkel sein. Aber wenn,
ich sag dann immer, daß ich mit’m Auto heimgebracht wurde,
egal ob oder ob nicht, ne? Dann geht das schon”
(S. 13).
|A 59|
[V45:422] Sie sieht sich in der Lage, selbständig zu
entscheiden, wen sie zum Freund haben möchte, ob sie die Pille
nimmt oder nicht und ob sie es verantworten kann, abends allein
nachhause zu gehen. Da sie ihre Unabhängigkeit im Bereich der
Entscheidungsfähigkeit demonstriert, und ihr das unabhängige
Urteil wohl auch das Wichtigste ist, muß sie nicht jede ihr
möglich erscheinende Entscheidung auch noch durch die Ausführung
bekräftigen, das zeigt der Konjunktiv in den ersten beiden
Zitaten. Die Zitate zeichenauch, daß A glaubt, ihre Eltern würden die von ihr
getroffenen Entscheidungen im gegebenen Fall schon tolerieren.
Diese Annahme wird zusätzlich durch die nächste Version
gestützt:
[V45:423] B 2: Ich bin jemand, der schon als
Kind selbständige Entscheidungen getroffen hat
[V45:424] Dadurch, daß der Vater nach A’s Darstellung nur sehr
vorsichtig in ihren Bildungsprozeß eingegriffen hat, erfährt
sich A auch rückblickend als relativ unabhängiges und
selbständiges Kind:
[V45:425]
“… früher,
weiß ich das, d. h. hab ich mich mit allen Mitteln
durchgesetzt und so, weil, ich bin ja auch, ich glaube, daß
ich ziemlich früh selbständig war, jedenfalls ich kann das
selbst nicht beurteilen, aber alle erzählen das immer, und
vielleicht hat er’s dann irgendwie aufgegeben, noch mehr zu
sagen”
(S. 13)
[V45:426] Sie führt wieder
“alle”
als Zeugen
an, um ihre Darstellungsweise zu unterstützen, dadurch wird die
Glaubwürdigkeit erhöht. Außerdem zeigt sie uns an einer anderen
Stelle des Interviews, daß sie durch die Unentschlossenheit
ihrer Eltern, ihr gegenüber Position zu beziehen, geradezu
gezwungen wurde, selbständig Entscheidungen zu treffen:
[V45:427] A:
“
Bei uns
früher ging das immer so, erst habe ich meine Mutter
irgendwie gefragt dann sagte sie:
‘Mußt du
deinen Vater fragen’
, weil sie sich vor der
Entscheidung drücken wollte. Und dann ging das immer hin und
und … I: Und dein Vater hat gesagt:
‘Mußt du deine Mutter fragen?’
A: Ja, und so ist es dann immer so geworden, daß ich
immer alles selbst entschieden hab”
(S. 32/33)
[V45:428] Im Versuch, ihr eigenes Leben zu leben, läßt sich
dennoch eine Entwicklung bemerken, das für A wichtigste Thema
ihres Lebens – ihr leiblicher Vater – mußte sie lange Zeit
hindurch verschweigen. Erst in letzter Zeit hat A ge|A 60|lernt, sich über das für dieses Thema von
den Eltern ausgesprochene Tabu hinwegzusetzen.
[V45:429]
“Also über
meinen leiblichen Vater hätte ich voriges Jahr noch nicht so
sprechen können, weil ich da wahrscheinlich noch so sehr an
meine Eltern gebunden war und die Gebote noch mehr geachtet
habe und so”
(S. 36).
[V45:430] So weist sie mit folgender Version noch einmal auf
die zunehmende Unabhängigkeit von den Eltern hin:
[V45:431] B 3: Ich bin jemand, der inzwischen
mit Freunden über ein zuhause tabuisiertes Thema sprechen
kann
[V45:432]
“So jetzt
irgendwie ist es für mich nicht mehr so’ne Belastung, aber
früher unwahrscheinlich, denn meine Eltern haben immer
gesagt, das soll keiner wissen und so, ne. Das wurde immer
so verheimlicht, auch jetzt so von meinen Eltern, naja, ich
bin natürlich die Tochter meines Vaters und so, ne, aber mit
allen anderen rede ich darüber, während meine Eltern das
nicht wissen …”
(S. 18)
[V45:433] Das bedeutet für A eine wahrscheinlich nicht
unerhebliche Bereicherung ihrer Selbstdarstellungsmöglichkeiten.
An dem Interview selbst läßt sich diese Annahme belegen. Solange
die Sprache noch nicht auf ihren
“Indervater”
gekommen ist, gerät A manchmal ins Stocken, wenn sie über sich
selbst und das Verhältnis zu ihrem jetzigen Vater eine Aussage
machen soll:
[V45:434] I:
“Hast du
nicht den Eindruck, daß er (der Vater), also bei dir ist er
liberaler, ne ist er nicht so im Befehlston …
A:
Vielleicht, weil ich, weil ich auch …”
, (S. 12/13)
[V45:435] Als sie dann auf eine Nachfrage des Interviewers hin
über den leiblichen Vater sprechen darf, komplettiert sich ihre
Darstellung erst zu einem vollständigen Bild. Auch die nächste
Version soll zeigen, daß A ihr eigenes Leben lebt.
[V45:436] B 4: Ich bin jemand, der unabhängig
von der Familie seiner Wege geht
[V45:437] Für diese Version lassen sich im Text Belege aus ganz
unterschiedlichen Bereichen finden. A macht in den Ferien allein
eine Fahrt nach Frankreich und freut sich sehr darauf. In der
Begründung über ihre Freude sagt sie:
|A 61|
[V45:438]
“Ich bin einfach
so froh, mal wieder von zuhause weg zu sein, und mich dann
wieder so auf die Familie freuen zu können, hoff ich
doch”
(S. 17).
[V45:439] Hierin zeigt sich, daß A zwar um Distanzierung bemüht
ist, aber diese nicht mit totaler Ablehnung verbunden ist, aus
der Distanz heraus kann sie wieder gute Beziehungen zu dem Rest
der Familie aufnehmen.
[V45:440] Ein zweites Beispiel für die Demonstration ihrer
Eigenständigkeit finden wir anläßlich des Themas
‘mögliche Scheidung der Eltern’
, sie würde
mit keinem Elternteil mitgehen, sondern zu ihrer Großmutter
ziehen (vgl. S. 33). Sie hat keine sehr feste Bindungen mehr zu
ihren Eltern, zu ihrem Vater bestand eine solche Bindung noch
nie und sie behauptet, daß auch ihre Mutter für sie emotional
nicht mehr allzu wichtig ist. So hofft – im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester –
nicht mehr auf ihr Verständnis.
[V45:441]
“mich versteht
sie zwar auch nicht, aber ich bin, ich hab mich irgendwie
damit abgefunden oder ich weiß nicht was, ich hab auch nicht
so ’ne feste Bindung zu meiner Mutter”
(S. 28).
[V45:442] Ein weiterer Bereich für das
“eigene
Wege gehen”
ist der sonntägliche Besuch der Familie des
eigenen Schrebergartens. A führt hier Zeugen dafür an, daß sie
nicht tut, was die Familie tut, indem sie die Vorwürfe ihrer
Eltern nennt:
[V45:443]
“Da gab’s schon
immer Streit, ich könnt ja auch mal tun, was die Familie
tut, und, ich müßte immer was anderes machen und so”
(S. 14).
[V45:444] Es ist auffällig, daß alle Selbstdeutungen A’s in
direktem Zusammenhang mit ihrer Familie stehen und auch andere
angesprochene Bereiche wie Schule und Politik, Freundschaften,
Religion in irgendeiner Weise mit den Familienmitgliedern und
ihren Verhaltensweisen verknüpft werden. Als zentraler Punkt
erscheint uns die Tatsache des
“anderen
Vaters”
, er ist die Ursache für die Art ihrer
Selbstdarstellung. Sie zeigt, wie sie in ihrer Familie
integriert ist, aber auch als anders angesehen wird und wie sie
für sich selbst das Verhältnis von Nähe und Distanz
bestimmt.
|A 62|
Exkurs:
[V45:445] Würde man eine Rangliste aufstellen wollen, die
innerhalb der Familie über Nähe und Distanz Aufschluß gibt,
die A zu den übrigen Mitgliedern der Familie herstellt,
ergibt sich m.E. folgende Rangordnung:
[V45:446] 1. Am nächsten verbunden fühlt sich A ihrer
Großmutter, sie liebt sie ohne Einschränkung:
[V45:447]
“Und ich hab
auch früher zu meiner Großmutter immer so – das sagt
wohl alles – immer Oma-Mutti gesagt … Ich hab ein
unwahrscheinlich gutes Verhältnis zu meiner
Großmutter”
(S. 30).
[V45:448] Sie hat auch ihre ersten drei Lebensjahre bei der
Großmutter verbracht und vor ihr mußte A’s wahre Identität
nie verborgen werden, sie wußte Bescheid und hat das
Liebesverhältnis ihrer Tochter sowie die daraus
resultierende A akzeptiert.
[V45:449]
“Aber meine
Großmutter und so … die hat das nie schlimm empfunden
und ist auch … hat meiner Mutter nie irgend’ nen
Vorwurf gemacht oder so …”
(S. 38).
[V45:450] So würde sie auch im Falle einer Scheidung ihrer
Eltern die Großmutter als engste Bezugsperson wählen.
[V45:451] 2. An zweiter Stelle kämen die beiden jüngeren
Schwestern, sie hängt sich Bilder, die Sandra gemalt hat, in
ihr Zimmer und trägt Schmuck, den Martina gebastelt hat.
Danach gefragt, ob sie ihre Geschwister nett findet,
antwortet sie:
[V45:452]
“
Ja, doch
wirklich! Und da merkt man auch nicht so, daß wir
eigentlich Halbgeschwister sind, ja, obwohl Martina so im Streit, da sagt sie immer
‘bist ja nur ne Halbschwester’
. Aber
das kann man nicht so ernst nehmen. Sandra weiß ja von
all dem noch gar nichts”
(S. 42).
[V45:453] Vielleicht drückt sich in dieser Darstellung
etwas Angst aus, daß im Falle von Konflikten A’s
Außenseiterposition sie aus der Geschwistersolidarität
herausnimmt.
[V45:454] 3. Auf dem nächsten Platz stünde die Mutter, in
vielem distanziert sich A von ihr: Sie würde z. B. nicht so
irrational wichtige Entscheidungen treffen (Eheschließung,
Kinder bekommen)
|A 63|
[V45:455]
“Ach, ich Glaube, daß meine Mutter manchmal bereut, meinen
Vater geheiratet zu haben …”
(S. 30)
[V45:456]
“… ich
glaub schon, daß ich Kinder haben möchte. Jedenfalls ich
würde die wirklich planen, so, wir sind alle so
Zufallskinder, und das merkt man manchmal irgendwie auch
’n bißchen, ne, daß das alles nicht so gut hinhaut,
besonders finanziell bei uns, ne”
(S. 12).
[V45:457] Aber sie fühlt sich ihr auch nah: Die Mutter
sucht bei ihr Trost und Beistand, wenn sie mit ihrem Mann
Konflikte hat, sie ist unvoreingenommener als der Vater,
wenn A politische Meinungen äußert (vgl. S. 29/30 und S. 6).
Manchmal haben Mutter und Tochter auch ähnliche Interessen,
z. B. Kino- oder Theaterbesuche zu machen (vgl. S. 7).
[V45:458] 4. Der Vater reagiert an letzter Stelle: es ist
nicht ihr leiblicher Vater, das hat A von Anfang an
abgehalten, eine enge emotionale Bindung an ihn zu
entwickeln:
[V45:459]
“Irgendwie
ich weiß halt, das ist nicht mein Vater”
(S. 20).
[V45:460] Sie hat ihn auch, als sie von ihrer Großmutter
weg und zu ihren Eltern hinzog, erst eine lange Zeit
“Onkel Dieter”
genannt und konnte sich
nur schlecht an ihn gewöhnen. Er wird von ihr als rigide und
unflexibel beschrieben und sie bewertet diese Eigenschaft
negativ. Er hat Interessen (wie Kneipe, Schrebergarten), die
A nicht teilt. Er verkörpert alles das, was A nicht sein
möchte. Sie gibt ein kräftiges Urteil über das Verhältnis zu
ihrem Vater ab:
[V45:461]
“Und daß ich
sowieso meinen Vater nicht, nachdem ich ihn so kurz
gekannt hätte, diesen Vater, daß ich ihn da nicht
geheiratet hätte”
(S. 30).
[V45:462] Dennoch enthält auch dieses Verhältnis noch ein
Stück Verbundenheit: A bringt ihrem Vater Verständnis für
die Belastung durch seine Arbeit entgegen und sie fühlt sich
wohl in der Bewunderung und Anerkennung, die der Vater ihr
deutlich zeigt.
2.3. Deutungen des interpersonellen
Handelns
2.3.1. Normative
Deutungen
[V45:506] A verfügt über ein explizites Regelbewußtsein.
Sie weist im Laufe der Darstellung ihrer familialen
Situation auf eine Reihe von Regeln hin, die einen hohen
Allgemeinheitsgrad haben, so daß man ihr Handeln als
“prinzipiengeleitet”
bezeichnen könnte.
Wir wollen für die Diskussion drei Gruppen von Regeln
unterscheiden:
- a)
[V45:507] Kommunikationsregeln (Regel 1 – 5)
- a)
[V45:508] Familienregeln (Regel 6 – 10)
- a)
[V45:509] postkonventioneller Gebrauch von
Familienregeln (Regel 11 – 12)
[V45:510] zu a) Kommunikationsregeln
[V45:511] Die im folgenden formulierten Regeln folgen alle
dem Prinzip der argumentati|A 69|ven Rede,
die A für das wichtigste Prinzip kommunikativen Handelns
hält.
[V45:512] Regel 1: Man soll seine
Meinung vertreten
[V45:513]
“Und ich
finde das eigentlich schlimm, wenn man so, wenn man
seine Meinung nicht so vertritt”
(S. 4).
[V45:514] In dem Zitat zeigt sich, daß A selbst diese Regel
nicht immer befolgen kann. Sie nennt aber auch die Gründe,
die in einem familialen Kontext manchmal verhindern, daß man
seine Meinung sagt: der Vater, der seine Meinung mit Gewalt
durchzusetzen versucht (S. 4), die Resignation darüber, doch
nichts ändern zu können.
[V45:515] Eine Erweiterung dieser Regel läßt sich aus
folgender Textstelle herauslesen, in der A ihre
Stellungnahme zu dem Vorhaben ihrer Schwester, von zuhause
wegzulaufen, schildert:
[V45:516]
“Und ich hab
zwar gesagt, daß ich das nicht gut finde und daß das
nichts bringt, aber ich hab auch nicht direkt gesagt zu
ihr, sie soll es nicht tun”
(S. 28)
[V45:517] Regel 2: Man sollte seine
Meinung sagen, aber dabei keinen Druck ausüben.
[V45:518] A zeigt in der Begründung dieser Regel, daß es
sinnlos ist, seinen Argumenten mit der Ausübung von Gewalt
Nachdruck zu verleihen, da Druck die Einsichtsfähigkeit in
Argumente nicht vergrößert und solange die Einsicht fehlt,
die eigenen Handlungen nicht revidiert werden. So wird die
Schwester weglaufen, solange sie nicht wirklich erfährt, das
Weglaufen sinnlos ist und sie wird ihrem Vater nicht
glauben, daß Sandra mit
“Dresche”
erzogen
werden muß auch wenn er noch so sehr schreit, solange sie
vom Gegenteil überzeugt ist. Hier schließt sich gleich die
nächste Regel an:
[V45:519] Regel 3: Man sollte Kinder
nicht mir Druck erziehen.
[V45:520]
“
So, also
über Kindererziehung können wir überhaupt nicht … mein
Vater sagt immer zu Sandra
‘die muß mal kräftig Dresche kriegen’
und so, und ich finde das so sinnlos und werd dann
vielleicht auch gleich ’n bißchen zu böse und so, denn
ich find das schrecklich, wenn man Kinder so versucht
mit Druck zu erziehen, und wenn … I: Haben sie
das bei dir auch gemacht? Ich war wohl nicht so
aggressiv in dieser Zeit, ich mein, das hat schon
Ursachen, daß Sandra so ist”
(S. 3).
|A 70|
[V45:521] Offenbar hat der Vater in diesem Punkt eine
andere Auffassung als A. Um ihn zu widerlegen, verwendet A
deutliche Theoriebezüge, mit denen sie ihre eigene Regel
begründet Druck und Repressivität in der Kindererziehung
fördern Aggressivität und schaffen keine Einsichten.
[V45:522] Um die Ursache-Wirkungsverknüpfung zu erläutern,
werden im folgenden auch Situationen geschildert,
Geschichten erzählt. Aber die narrative Komponente stellt
hier lediglich die Konkretion des allgemeinen gesetzartigen
Zusammenhangs von
‘Aggressivität und
repressiver Erziehung’
dar.
[V45:523] Die vierte Regel bezieht sich ebenfalls auf
kommunikatives Handeln:
[V45:524] Regel 4: Wenn größere
Probleme bestehen, soll man darüber sprechen und sich nicht
gegenseitig Vorwürfe machen
[V45:525]
“… daß im
Streit, dann kriegt man das so vorgeworfen, wir sind
genauso, machen das mit unseren Eltern auch so, ne? Aber
das finde ich eigentlich schlimm”
(S. 11).
[V45:526] A ist der Meinung, daß
“in Ruhe
darüber reden”
(S. 11) sicher gerade bei
schwerwiegenden Problemen in der Familie helfen würde, diese
Probleme zu beseitigen. Sie gibt auch den Grund dafür an,
worum es in ihrer Familie nur schlecht möglich ist, sich auf
diese Weise zu verständigen:
[V45:527]
“Aber ich
glaube auch, daß wir nicht genug Vertrauen zueinander
haben”
(S. 10)
[V45:528] Vertrauen ist für sie eine Grundvoraussetzung für
Verständigungsprozesse jeglicher Art; da auch ihr das
Vertrauen in die Eltern zu fehlen scheint (wohl vor allem,
weil sie die Tatsache ihres leiblichen Vaters so lange
verschweigen mußte), spricht sie sich über ihre Probleme
auch nicht aus, wendet sich lieber an ihre Freunde, zu denen
sie größeres Vertrauen besitzt.
[V45:529] Die letzte Regel, die noch in den Zusammenhang
der Kommunikationsregeln gehört, fordert Toleranz:
[V45:530] Regel 5: Man sollte
tolerant sein.
[V45:531] Diese Regel wird u. a. ausführlich erläutert auf
S. 41 am Beispiel der Frage, was es heißt, christlich zu
sein. Wenn christliche Motive sich allgemein, an
universellen Prinzipien rechtfertigen lassen, dann muß man
keine partikulare Moral in Gestalt eines besonderen
christlichen Glaubensbekenntnisses und formeller
Mitgliedschaft in einer speziellen Gruppe von Menschen
anerkennen.
|A 71|
[V45:532] Und wenn schließlich diese Gruppenmoral der
Gemeinde zur Verletzung solcher Prinzipien – wie etwa der
Toleranz – führt, dann ist das eher ein Argument gegen die
Anerkennung einer speziell christlichen Verknüpfung von
Motiven und Glaubensinhalten.
[V45:533] In diesen Kommunikationsregeln bringt A zum
Ausdruck, daß sie Meinungen und Regeln prinzipiell für
diskutierbar hält und für konsensfähig.
[V45:534] Es ist schade, wenn Macht oder Unverständnis
einen solchen Verständigungsprozeß verhindern. Sie ist der
Meinung, daß letztenendes für das Handeln eines Menschen nur seine Einsicht
in die Sinnhaftigkeit dieser Handlung sinnvoll und
ausschlaggebend sein kann; nicht etwa der Druck, durch den
man ein bestimmtes erwünschtes Handeln erzwingen möchte.
Beispiele finden sich in der Darstellung der Konflikte:
Sandra – Eltern, Sandra – Schule und
Martina – Eltern. Auch in der Beschreibung der
eigenen Konflikte mit den Eltern sind Beispiele enthalten.
Sie bringt auch Belege dafür, was geschieht, wenn dem
letztgenannten, von A abgelehnten Handlungstyp entsprochen
wird: die gefühlsmäßige Reaktion ist Ablehnung, es entsteht
das Gefühl von Abhängigkeit und die handlungsmäßige Reaktion
bei A ist Umgehung des Drucks, Verheimlichen, Ausweichen.
Sie empfindet dieses Muster jedoch als gravierenden Mangel
der Interaktion in ihrem Elternhaus.
[V45:535] zu b) Familienregeln
[V45:536] Da A das Familiensystem für das Zusammenleben von
Erwachsenen und Kindern grundsätzlich nicht infrage stellt,
formuliert sie eine Reihe von Regeln, die ihrer Meinung nach
eingehalten werden müssen, wenn die Familie für alle
befriedigend funktionieren soll.
[V45:537] Regel 6: Kinder sollten bei
ihren Eltern Verständnis finden
[V45:538] Die beiden jüngeren Schwestern haben in der
Nachbarschaft kaum Freunde, mit denen sie spielen können, da
die Mutter ihnen den Umgang mit den dort wohnenden Kindern
immer wieder untersagt. A ist der Meinung, daß aus diesem
Verbot den beiden Geschwistern eine Reihe von Problemen
entstehen: sie |A 72|fühlen sich allein,
langweilen sich, verlieren den Kontakt zu Mitschülern und
fühlen sich vor allem unverstanden, da die Familie auch
keinen Ausgleich für die mangelnden kindlichen Freunde
schafft.
[V45:539]
“… aber
mein Vater kümmert sich wirklich überhaupt nicht um
uns”
(S. 32)
[V45:540]
“Ich kann
mir nicht vorstellen, obwohl das so monoton ist, daß ich
so desinteressiert wär an der Kindererziehung (gemeint
ist die Mutter)”
(S. 30/31)
[V45:541]
“ach mit
meiner Mutter, die versteht Martina nicht
…”
(S. 28)
[V45:542]
“… weil
ich das wichtig finde, daß sie irgendwie verstanden
wird, wo sie schon hier oben so keine so, so Freunde
finden kann (gemeint ist Sandra)”
(S. 24)
[V45:543] Vor allem versteht die Mutter offensichtlich
nicht das kindliche Bedürfnis nach Freunden; so wird Sandra
aggressiv und Martina läuft davon.
[V45:544] Regel 7: Aus Erfahrungen
sollte man Lehren ziehen
[V45:545] Die Regel formuliert A vor allem angesichts des
Lebenslaufs ihrer Mutter. Die Folge von ungeplanten
Schwangerschaften hat das Familienleben nicht gerade
erleichtert. Die Familie geriet dadurch in finanzielle
Schwierigkeiten und die Ehe ihrer Mutter mit dem jetzigen
Ehemann war von Anfang an durch zwei Kinder belastet.
[V45:546]
“Obwohl, es
war natürlich ’ne große Belastung, weil mein Vater, der
so bei seiner Mutter gelegt hat, ne, so alles Geld für sich so ausgegeben
hat… ”
(S. 20)
[V45:547] Außerdem hätte sie nach A’s Meinung den zweiten
Mann ihres Lebens etwas länger prüfen sollen und sich nicht
sofort wieder in eine Beziehung mit dem Risiko einer
Schwangerschaft einlassen sollen, da sie die entäuschende Erfahrung mit ihrem indischen Freund doch gerade
hinter sich gebracht hatte. In diesem Zusammenhang steht
auch die nächste Regel:
[V45:548] Regel 8: Man sollte einen
Mann gut kennen, ehe man ihn heiratet
[V45:549]
“Jaja,
vielleicht ist das altmodisch, aber mich erschreckt das
immer, ich find das nicht gut”
(S. 20)
[V45:550] Weil ihre Mutter diese Regel nicht befolgt hat,
bereut sie manchmal, ihren Mann geheiratet zu haben und ist
oft sehr unglücklich über ihre Ehe, da auch die beiden
folgenden Eheregeln als Basis der Familienregeln nur
mangelhaft erfüllt werden.
[V45:551] Regel 9: Wenn man
verheiratet ist, sollte man sich was zu sagen haben
[V45:552] und
|A 73|
[V45:553] Regel 10: Wenn man
verheiratet ist, sollte man aneinander sexuell interessiert
sein
[V45:554] A beurteilt die Ehe ihrer Eltern nach solchen
normativen Prinzipien und sie findet die Art ihres
Zusammenlebens nicht nur
“fürchterlich”
,
in ihren Augen besteht die Ehe
“praktisch”
nicht mehr.
[V45:555]
“Ich hätte
das nie irgendwie als so schrecklich empfunden, wenns
auseinandergegangen wär, weil sie für mich ja praktisch
auseinander sind”
(S. 33).
[V45:556]
“Ich finde
das ganz fürchterlich, daß man sich überhaupt nichts zu
sagen hat und so”
(S. 29).
[V45:557] Sie erfährt auch, wie die Mutter unter der
mangelhaften Einlösung der Eheregeln leidet, diese weint
sich öfter bei A aus. Die von A formulierten Familienregeln
beinhalten alle massive Kritik an den Eltern, da dort nur
sehr mangelhaft nach ihnen verfahren wird. Sie hält die
Einhaltung dieser Regeln jedoch für sehr vernünftig für den
Fall, daß jemand eine Familie gründen will und in einer
Familie leben will.
[V45:558] zu c) postkonventioneller
Gebrauch von Familienregeln
[V45:559] Die folgenden Regeln sind ebenfalls gültige, von
A anerkannte Familienregeln, auf deren Einhaltung die Eltern
strikt bedacht sind, ohne situationsspezifische Änderungen
zuzulassen. Wir wollen zeigen, daß sich A zu diesen Regeln
in
“postkonventioneller Weise”
verhält.
[V45:560] Regel 11: Wenn ein junges
Mädchen erst im Dunkeln nach Hause kommt, sollte es von
jemandem begleitet werden
[V45:561] Sie befolgt diese Regel nach Möglichkeit,
durchbricht sie aber, wenn sich niemand findet, der sie nach
Hause bringt. Sie entscheidet in solchen Fällen selbst, ob
es die Situation zuläßt, daß sie auch allein nach Hause
gehen kann, vor ihren Eltern verheimlicht sie diese
selbständige Abwandlung der Regel:
[V45:562]
“Ich sage
dann immer, daß ich mit ’nem Auto heimgebracht werde,
egal ob oder ob nicht”
(S . 13).
[V45:563] Dadurch will sie Streit vermeiden, denn sie hat
die Erfahrung gemacht, daß |A 74|Regeldiskussionen zu Hause nur schwer möglich sind. Ein
zweites Beispiel für A’s postkonventionellen Umgang mit
Regeln bietet die folgende Regel:
[V45:564] Regel 12: Wenn ein junges
Mädchen von zu Hause weggeht, sollte es sagen, wohin es
geht
[V45:565] A kennt die Regel und diskutiert sie:
[V45:566]
“Ich finde
es fürchterlich, bei uns ist es immer so, bevor man
weggeht, sogar wenn man 10 Minuten weggeht, dann muß man
sagen wohin”
(S. 15)
[V45:567] akzeptiert sie
[V45:568]
“Ich seh das
ein, wenn ich abends weggehe oder ’n ganzen Tag oder
so”
(S. 15)
[V45:569] relativiert sie und benennt Ausnahmen
[V45:570]
“Aber wenn
ich mal so ’ne Stunde weggehe, dann sehe ich das einfach
nicht ein”
(S. 15).
2.3.2. Objektivistische
Deutungen
[V45:571] Anders als bei Susi, für die die
objektivistische Deutung bestimmter Sachverhalte bedeutete,
daß
“Etwas”
, was sie nicht kennt und
nicht ändern kann, sich in ihre Beziehungen einmischt und
sich störend auswirkt und vor allem sie selbst betrifft,
sind A’ objektivistische Deutungen generelle Aussagen, z. B.
über Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen in einem
bestimmten Alter (1), oder über Meinungsverschiedenheiten
zwischen Vätern und Töchtern (2), die ebensogut auf jeden
anderen zutreffen können wie auf sie und ihre Familie:
-
1)
[V45:572]
“Ist
wahrscheinlich auch ganz normal, also in unserem
Alter, daß man mit Älteren besser auskommt”
(S. 2)
-
2)
[V45:573]
“Dann, wenn ich eine andere Meinung habe, und das
kommt ja häufig vor, ist ja ganz normal”
(S. 4)
-
3)
[V45:574]
“…
mit zwei Vätern, das geht irgendwie nicht”
(S. 28)
-
4)
[V45:575]
“Wenn
man es tun will, dann tut man’s sowieso”
(S. 28)
2.3.3. Perspektivische
Deutungen
[V45:576] A ist fähig, sich in andere hineinzuversetzen,
Motive für ihr Verhalten zu suchen und ihr Verhalten zu
verstehen. Sie stellt sich dar als jemand, der über ein |A 75|hohes Maß an Rollenflexibilität
verfügt. Allerdings führt die Rollenflexibilität nicht dazu,
daß sie das Verhalten, was sie erklären und verstehen kann,
auch in jedem Fall akzeptiert.
[V45:577] Wenn sie selbst an Streitsituationen beteiligt
ist, entwickelt sich ihr Verständnis auch erst in der
Reflexion über die Situation, nicht schon in der Situation
selbst:
[V45:578]
“Ich kann
das schon irgendwie ’n bißchen verstehen, so, nicht in
der Situation, aber jetzt versteh ich schon so, daß
…”
(S. 5)
[V45:579] Das häufig verwendete Satzmuster für
perspektivische Deutungen ist:
[V45:580]
“Ich
verstehe schon, daß …”
[V45:581] Beispiele für perspektivische Deutungen:
[V45:582]
“Also mein
Vater ist da noch viel freier als meine Mutter, die ist
ja nun immer, wahrscheinlich weil sie selbst sowas mal
erlebt hat, ziemlich ängstlich, und ich kann das schon
verstehen”
(S. 4).
[V45:583]
“Ich mein,
das hat schon Ursachen, daß Sandra so ist”
(S. 5)
[V45:584]
“Meiner
Mutter wird das ja bestimmt von der Arbeit nicht zuviel,
bloß, es ist halt so monoton, immer nur den Haushalt,
und ich wäre bestimmt auch ganz unzufrieden in ihrer
Rolle, ne”
(S. 6)
[V45:585] Sie ist in der Lage, in der Reflexion über
bestimmte Situationen die Perspektive zu wechseln und macht
sich sehr viele Gedanken über die Motive des Handelns von
anderen Menschen. Dadurch gelingt es ihr auch, als sehr
problembewußt zu erscheinen und mit den Problemen auch
umgehen zu können:
[V45:586]
“Als du
sagtest, …, daß ich alles so problemlos nehme, das hat
mich so erstaunt. Das ist auch gar nicht so, das ist
bloß einfach so, diese Familienkonflikte, wo ich ja
sehe, daß es in jeder Familie so ist, und daß meine
Klassenkameraden und so ganz genauso empfinden. Daß ich
das dann nicht mehr so als Problem sehe, sondern als
halt irgendwas, was halt da ist, aber keine Probleme”
(S. 27).
[V45:587] In Bezug auf die eigenen Probleme innerhalb der
Familie gelingt es ihr durch die Fähigkeit zur
perspektivischen Deutung, diese zu relativieren, da sie ihre
Probleme bei anderen wiedererkennen kann, sieht, daß sie
nichts Besonderes darstellen.
[V45:588] In Bezug auf die Schwierigkeiten anderer kann sie
das Verständnis, das sie für andere entwickelt, in die
praktische Hilfe, die sie ihnen anbietet, einbringen.
|A 76|
[V45:589] So kann sie für ihre kleine Schwester Sandra
eintreten und ihr auch gegen den Druck der Eltern beistehen,
sie ist offensichtlich auch für ihre Mutter hilfreich, die
bei ihr Rat und Trost sucht und die sie besser versteht als
diese A.
[V45:590] Ebenso bringt sie Verständnis auf für einige
Patienten des LKH und bietet ihnen ihren Kontakt an. Nur drei
Textstellen gibt es im Interview, in denen A ausdrücklich
erklärt, daß sie nicht versteht:
[V45:591]
“Und ich
versteh auch nicht, warum meine Eltern das so nie
wollten, daß das irgendwer erfährt und so”
(S. 20).
[V45:592]
“
Hat meine
Mutter immer gesagt:
‘Der ist auf
Montage’
und so, irgendwie so, und auf dem
kleinen Dorf kann ich das ja, nee, kann ich nicht
verstehen, muß ich echt sagen”
(S. 21).
[V45:593]
“Ich versteh
auch nicht, daß meine Mutter das kann, so … da
überhaupt nicht drüber zu reden”
(S. 38).
[V45:594] In allen drei Fällen handelt es sich um das
Verheimlichen des Inder-Vaters. Da es ansonsten nichts gibt,
was A nicht versteht oder wofür sie wenigstens Erklärungen
sucht, sind diese Zitate ein Indiz dafür, wie sehr der
Inder-Vater ihre Identität bestimmt.
[V45:595] A wendet die Deutungen des interpersonellen
Handelns in einer Weise auf ihre Familiensituation an, das
sie einen Hinweis auf die Familienhierarchie enthalten, wie
sie sich für A darstellt: So behauptet A implizit, ein
besseres Verständnis als die Eltern von vielen Situationen
zu haben und sie deshalb auch besser beurteilen zu können.
Ja, es wird deutlich, daß A der Ansicht ist, ihre Eltern
besser zu verstehen und zu beurteilen und sie deshalb, wenn
sie es nur zulassen würden, auch besser unterstützen zu
können (so bei der Kindererziehung oder wenn ihre Mutter
Probleme hat) als ihre Eltern es ihr gegenüber können. Dafür
muß sie eine Reihe entsprechender Erfahrungen gemacht
haben.
[V45:596] Dasjenige Ereignis, das nach ihrer
Selbstdarstellung gravierendste für diese Sonderstellung
ist, die sie neben einigen Problemen auch mit Privilegien
ausstattet, ist die Tatsache des anonymen – als
“Vorbild-Mensch”
mystifizierten – Inter-Vaters.
[V45:597] In dieser Familienkonstellation wird die
Generationsschranke tendenziell aufge|A 77|hoben; ab und zu entsteht sogar der Eindruck von A als
unumstrittenem Familienoberhaupt.